Jeremy Corbyn, die Labour Party und linke Politik

13. November 2018  Allgemein

Seit Jeremy Corbyn die Spitze der Labour Party in Großbritannien bildet, erlebt die Partei einen beispiellosen Boom. Sie hat inzwischen 540.000 Mitglieder und konnte trotz der Angriffe führender Medien und Richtungskämpfen in der Partei bei den Wahlen 2017 40 Prozent der Wählerstimmen erringen. Die Partei hat unter Corbyn eine wichtige Konsequenz gezogen, es wurde erkannt, dass spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise 2007/2008 der Reichtum im Kapitalismus in die falsche Richtung verteilt wird (1).Corbyn spricht sich klar für eine Anti-Austeritätspolitik aus und setzt sich eindeutig von der Politik des sogenannten „ Dritten Weges“ von Blair und Schröder ab. Er will eine Politik betreiben, bei der „überall in Europa Bürger wieder daran glauben können, dass sie eine Zukunft haben“ (2). Das gehe nur, wenn der Reichtum neu verteilt werde und bestimmte Infrastruktureinrichtungen, zum Beispiel das Strom- und Eisenbahnnetz, wieder in öffentliches Eigentum überführt würden. Corbyn strebt ein Europa an mit Gesellschaften, „die für alle da sind und nicht für ein paar Wenige“ (3). Es gilt also die Losung: „For the many not the few.”

Das Interview mit Jeremy Corbyn ist vor dem Hintergrund des Parteitages der britischen Labour-Party von Ende September 2018 zu beurteilen (4). Hier wurden die Kernpunkte eines zukünftigen Regierungsprogramms diskutiert. Es zeigte sich, dass die Labour Party um die Ausgestaltung eines neuen Gesellschaftsprojektes ringt. Wichtig waren insbesondere die Diskussionen über eine alternative Wirtschaftspolitik, die Probleme der Umsetzung eines Austritts aus der EU und die Perspektiven einer Regierungsübernahme. Dem konservativen Weg der Rückgewinnung einer nationalstaatlichen Souveränität wurde die progressive Perspektive der Wiederaneignung der Arbeits- und Lebenswelt durch die Lohnabhängigen entgegengestellt. Vor dem Hintergrund einer immensen sozialen Ungleichheit werden das öffentliche Eigentum und eine umfassende Dezentralisierung der Wirtschaftsmacht als eine Möglichkeit gesehen, den Menschen ein direktes Mitspracherecht bei Entscheidungen über Arbeitszeiten, Löhnen, Investitionen, neuen Technologien, Gesundheit und Sicherheit einzuräumen. Es soll ein umfassendes Investitionsprogramm des Staates verabschiedet werden, dessen Finanzierung nicht nur aus dem Staatshaushalt, sondern auch aus den Mitteln einer Nationalen Investitionsbank erfolgen soll. Es geht um eine Wirtschaftsdemokratie, die folgende Merkmale enthalten soll:

1.Die Einbeziehung der Beschäftigten und der Zivilgesellschaft allgemein in die wirtschaftliche Entscheidungsfindung.
2.Die Erschließung des Erfahrungswissens der Beschäftigten und der Nachfrager öffentlicher Güter.
3.Die Stärkung der kommunalen Gebietskörperschaften.
4.Die Stärkung der bisher ausgeschlossenen Gruppen und Einzelpersonen.

Es wird somit von der Labour Party eine Gesamtkonzeption für eine progressive Gesellschaft vorgestellt. Diese Konzeption gilt es mehrheitsfähig zu machen. Zu den wirtschaftsdemokratischen Vorschlägen kommen noch weitere wichtige Vorschläge hinzu, zum Beispiel die Errichtung eines Kollektivfonds, in den alle Unternehmen mit mehr als 250 Beschäftigten einzuzahlen haben. Er soll dazu dienen, eine öffentlich kontrollierte Investitionspolitik der Unternehmen durchzuführen. Die Labour Party knüpft hier an ein Projekt der schwedischen Gewerkschaften aus den 70er Jahren an.
Was den Brexit angeht, wurde auf dem Parteitag der Labour Party ein weiteres Referendum zum Brexit nicht ausgeschlossen, nachdem vor der Wahl 2017 die Option Corbyns „Bleiben und Reformieren“ keine Mehrheit in der Partei fand. Jetzt soll die Tür für ein umfassendes wirtschaftsdemokratisches Konzept auf europäischer Ebene offengehalten werden. Da die Konservativen im Rahmen des Brexits bzw. Austrittsvertrages total zerstritten seien, ließe sich eine gesellschaftliche Krise nur durch Neuwahlen verhindern. Das politische Vakuum, das die Konservativen hinterlassen würden, könnte die Labour Party füllen.
Die Politikkonzeption der Labour Party könnte für unsere Partei und linke Mehrheiten in der SPD und den Grünen beispielgebend für eine Bündnispolitik sein. Es sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, dass zur Erringung der Hegemonie progressiver Kräfte im Lande eine echte Alternative zur Austeritätspolitik notwendig ist. Die Ablehnung und Bekämpfung der Austeritätspolitik und die Durchsetzung ökonomischer und sozialer Sofortmaßnahmen muss der Beginn einer schrittweisen Veränderung hin zu wirtschaftsdemokratischen Veränderungen sein. Das geht allerdings nur, wenn es gelingt, diese Politik mehrheitsfähig zu machen und in der Bevölkerung eine inhaltliche und auch affirmative Zustimmung zu erreichen. Eine noch schwierigere Aufgabe wird es sein, eine Überwindung des Finanzkapitalismus und das Ziel eines demokratischen Sozialismus anzusteuern. Das wird nicht gehen ohne eine Kritik an der Struktur des abgelaufenen Realsozialismus und eine Menge Überzeugungsarbeit für einen demokratischen Sozialismus, der ein Projekt im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung und nicht der Wenigen darstellt. Das ist dann auch der Weg, um die Welle des Rechtspopulismus aufzuhalten und zurückzudrängen.

1) Siehe Spiegelinterview mit Jeremy Corbyn vom 10.11.18 S.96
2) a.a.O. S.96
3) a.a.O. S.98
4) Siehe Sozialismus Aktuell vom 2.10.18