Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Stadt sagt: „Finanzielle Unterstützung des Landes notwendig“

13. Juni 2016  Allgemein, Anfragen, Berichte

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit. Die Stadt Karlsruhe ist für eine umfassende Betreuung verantwortlich. Für einige Aufgaben wäre, so sagt die Stadt, finanzielle Unterstützung seitens des Landes notwendig. Weiteres in der  Antwort der Stadt auf unsere Anfrage:

 

1. Wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind je 2014 und 2015 in Karlsruhe angekommen?
2014:         Altersfestsetzung:     680
Inobhutnahmen:     238

2015:         Altersfestsetzung:   2343
Inobhutnahmen: 892


Ca. 160 dieser ankommenden Jugendlichen verbleiben längerfristig in Karlsruhe und werden in Wohngruppen, Pflegefamilien oder betreutem Einzelwohnen durch die Jugendhilfe betreut. Die anderen werden nach Zuteilung des Landesjugendamtes auf andere Stadt- und Landkreise Baden-Württembergs verteilt.
 
a) Gibt es zum Zeitpunkt dieser Anfrage schon aktuelle Zahlen für 2016?

Januar 2016 – April 2016:      216 Inobhutnahmen
gleicher Zeitraum 2015:        174 Inobhutnahmen
 
Nach ihrer Ankunft werden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge zunächst in der Landeserstaufnahme (LEA) untergebracht.
2. Wie ist dort eine dem Alter und Geschlecht angemessene, getrennte Unterbringung und die Vor-Ort-Betreuung sicher gestellt?
 
Die Mitarbeiter des Sozialen Dienstes sind täglich (Montag bis Freitag) zur Altersschätzung und Inobhutnahme vor Ort in der LEA. Deshalb kommt es nur am Wochenende oder über Feiertage vor, dass Jugendliche für einen kurzen Zeitraum von maximal 3 Nächten auf dem Gelände der LEA untergebracht sind. Sie werden dann in zwei separierte Räume auf dem LEA-Gelände untergebracht. Diese Räume sind mit sechs bis acht Betten ausgestattet. Mädchen werden getrennt von den männlichen unbegleiteten Minderjährigen im Frauenbau auf dem LEA-Gelände untergebracht. Bei sehr jungen Unbegleiteten (Kinder unter 14 Jahren) erfolgt eine direkte Inobhutnahme in einer Wohngruppe oder Pflegefamilie durch die Rufbereitschaft des sozialen Dienstes.
Durch den Sozialen Dienst erfolgt regelmäßig eine Altersfestsetzung (sofern keine Dokumente vorliegen, die das Alter angeben).
 
3. Mit welcher Methode wird die Altersfestsetzung durchgeführt?
 
Für die Altersfestsetzung gibt die Handlungsempfehlung „Alterseinschätzung: Verfahrensgarantien für eine kindeswohlorientierte Praxis“ vom Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (B-UMF). Entsprechend dieser Empfehlung wird in Karlsruhe die qualifizierte Altersfestsetzung im Rahmen einer Inaugenscheinnahme im Vier-Augen-Prinzip (zwei Fachkräfte) durchgeführt. Durch einen Dolmetscher ist sichergestellt, dass der Jugendliche die Fragen versteht und weiß, was die nächsten Schritte sind. Im Zweifel wird für die Minderjährigkeit entschieden.

 

Im Gegensatz zu anderen Städten oder Landkreisen wird in Karlsruhe keine medizinische Untersuchung zur Überprüfung des Alters durchgeführt. Die Untersuchung würde mittels Röntgen durchgeführt werden, was einem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit entspräche; dieser darf ohne die Einwilligung eines Vormundes nicht durchgeführt werden. Des Weiteren sind die Ergebnisse hieraus nicht belastbar, da sie häufig eine Schwankungsbreite von +/- zwei Jahren aufweist.

a) Über welche Qualifikationen müssen die Durchführenden verfügen?

 

Die für die Altersfestsetzung eingesetzten Beschäftigten verfügen über ein abgeschlossenes Studium der Sozialen Arbeit. Sie haben Erfahrung im Bereich der Arbeit mit Flüchtlingen, interkulturelle Kompetenz, Einfühlungsvermögen, Belastbarkeit, Flexibilität.
Wenn erforderlich, sucht der Soziale Dienst über das Familiengericht einen Vormund für einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling.

4. Über welche Qualifikationen muss ein solcher Vormund verfügen? Was muss er schriftlich nachweisen bzw. vorlegen?

Am 1. November 2015 ist das Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher in Kraft getreten. Darin wird geregelt, dass innerhalb der vorläufigen Inobhutnahme nach § 42a SGB VIII (vier Wochen) das Jugendamt berechtigt und verpflichtet ist, alle Rechtshandlungen, die zum Wohl des Kindes oder der Jugendlichen notwendig sind, vorzunehmen. Deshalb wird innerhalb der vorläufigen Inobhutnahme keine Vormundschaft beim Familiengericht angeregt. Erst danach wird durch das Familiengericht eine Vormundschaft eingerichtet.

Ein Amtsvormund sollte nach § 72 SGB VIII über ein abgeschlossenes Studium im Bereich Verwaltung oder Sozialpädagogik, sowie eine entsprechende Grundeinstellung und persönliche Lebenserfahrung für die Erfüllung der ihnen übertragenen Aufgaben verfügen.

Bei Privatvormündern kommen in der Regel Verwandte in Frage. Sie sollten zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bereit sein, entsprechende Lebenserfahrung vorweisen, in der deutschen Kultur „angekommen“ sein und zumindest Kontakte zu einer Flüchtlingsberatungsstelle oder Fachanwälten aufnehmen.

Ansonsten sollte ein Privatvormund über interkulturelle Kompetenz verfügen und in der Lage sein, sich in die schwierige rechtliche Materie des Ausländer- und Asylrechts einzuarbeiten, damit er ein Clearingverfahren für sein Mündel betreiben kann. Schließlich ist die Entscheidung, ob Asyl oder humanitäres Bleiberecht beantragt wird, ausschlaggebend für ein dauerhaftes Bleiberecht.
Zur Übertragung einer Vormundschaft muss ein Führungszeugnis vorgelegt werden.

5. Durchschnittliche Fallzahlen pro Vormund: Wie haben sich diese Zahlen je in 2014 und 2015 entwickelt?

a) Sieht die Stadt eine Notwendigkeit, die Fallzahlen pro Vormund zu begrenzen, um eine gute und angemessene Vormundschaft zu gewährleisten?

Die Fallzahlen pro Vormund sind 2014 stetig gestiegen. Im Herbst 2014 wurde auch die Fallobergrenze von 50 Vormundschaften/Vollzeitkraft überschritten, so dass im Dezember 2014 sowie im Frühjahr 2015 insgesamt 2,5 überplanmäßige Stellen für jeweils 1 Jahr geschaffen wurden. Dadurch konnten die durchschnittlichen Fallzahlen wieder auf 40 bis 44 Vormundschaften/Vollzeitkraft gesenkt werden. Durch rechtliche Änderungen, welche unter anderem eine schnellere Verteilung innerhalb Baden-Württemberg beinhaltet, konnte die Verringerung der Fallzahl erhalten bleiben.

Da noch nicht abschließend beurteilt werden kann, wie sich die bundesweit gestiegenen Flüchtlingszahlen auch auf Karlsruhe niederschlagen, wurde die Befristung der überplanmäßigen Stellen auf 31.März 2017 verlängert. Jedoch wurde durch den Weggang einer Mitarbeiterin eine befristete Stelle derzeit nicht mehr besetzt. Im Sommer 2016 soll entschieden werden, ob die restlichen überplanmäßigen Stellen in Planstellen umgewandelt werden müssen oder zum Teil entfallen.

b) Wenn ja, mit welchen Mitteln?

Nach § 55 Absatz 2 und 3 SGB VIII darf ein Amtsvormund als Vollzeitkraft nicht mehr als 50 Vormundschaften führen. In Baden-Württemberg gibt es daneben eine kommunale Orientierungshilfe zu Vormundschaften, die von einer Fallobergrenze von maximal 45 Vormundschaften ausgeht. Diese Orientierungshilfe wird von der Stadt Karlsruhe berücksichtigt, so dass zurzeit keine Notwendigkeit besteht, die Fallzahlen zu begrenzen.

6. Wohnplätze: Wie hat sich das Verhältnis von zur Verfügung stehenden Wohnplätzen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zur tatsächlichen Nachfrage entwickelt, je in 2014 und 2015?
a) Musste die Jugendhilfe hier nachsteuern, wenn ja mit welchen Mitteln?

Seit Ende 2014 wurden 15 neue Inobhutnahmegruppen eröffnet. Die Zahl der vorhandenen Plätze hat sich auf über 240 Inobhutnahmeplätze erhöht. Es standen immer ausreichend Plätze zur Verfügung. Im Dezember 2015 wurden vorübergehend Zimmer in der Karlsruher Jugendherberge und in einer Klinik angemietet, um einen Engpass zu überbrücken. Das Vorhandensein ausreichender Plätze war nur möglich durch die vorausschauende, flexible und engagierte Zusammenarbeit aller Beteiligter (Politik, Jugendhilfeträger, Sozialer Dienst/SJB, KVJS).

b) Stehen ausreichend Wohnplätze zur Verfügung?

Im Moment stehen in Karlsruhe ausreichend Wohn- und Betreuungsplätze zur Verfügung. Einige Inobhutnahmegruppen wurden zu Wohngruppen umgewandelt, in denen die unbegleiteten Minderjährigen längerfristig betreut und begleitet werden. Aufgrund der Kapazitätsprobleme anderer Jugendämter werden von dort auch Karlsruher Kapazitäten genutzt.

7. Fallzahl pro Mitarbeiter/in der Sozial- und Jugendbehörde: Wie hat sich bezogen auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge die Fallzahl pro Mitarbeiter/-in der Sozial- und Jugendbehörde je in 2014 und 2015 entwickelt?

Fallzahlen pro Mitarbeiter im Jahr 2014: ca. 80 Fälle/Mitarbeiter
Fallzahlen pro Mitarbeiter im Jahr 2015: ca. 150 Fälle/Mitarbeiter

Prognose für das Jahr 2016 bei angenommenen 800 Fällen und nach erfolgter Personalbedarfsmessung durch das POA:                  ca. 110 Fälle/Mitarbeiter

a) Gibt es bereits Prognosen für 2016?
Nach wie vor ist Karlsruhe ein Drehkreuz für die UMA-Verteilung Baden-Württemberg. Im ersten Quartal 2016 kamen mehr UMA an als im Vorjahr. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass ab Sommer die Einreise von UMA deutlich steigen wird. In welchem Umfang der Anstieg ausfallen wird, ist nicht abzuschätzen, da die Zahl von den politischen Entscheidungen der EU-Regierungen abhängt.

Wir sind vorbereitet auf die Ankunft von 800-900 Jugendlichen in 2016.

b) Sind die personellen Ressourcen ausreichend oder muss nachgesteuert werden?

Eine Arbeitsbemessung für den Bereich der Altersfestsetzung/Inobhutnahme ergab für das Jahr 2015 einen Bedarf an ca. 8,5 Stellen. Die Mitarbeiterzahl wurde Anfang 2016 auf 7 Beschäftigte aufgestockt. Die Stellen sind überplanmäßig und befristet bis April 2018. Im Hinblick auf Seite die Einrichtung planmäßiger Stellen wird der Personalbedarf durch das Personalamt im Herbst 2016 geprüft.

Für die Jugendlichen, die längerfristig durch den Sozialen Dienst der Stadt Karlsruhe betreut werden, steht derzeit kein zusätzliches Personal zur Verfügung. Der zusätzliche Arbeitsaufwand von ca. 3 Personalstellen fließt in die allgemeine Personalbemessung des Sozialen Dienstes ein. Im Oktober 2016 wird mit dem Personalamt der weitere Stellenbedarf besprochen.

Zu Frage 5 bis 7:
8. Ist die Stadt der Auffassung, dass bei diesen Aufgaben eine stärkere Unterstützung des Landes und des Bundes erfolgen sollte?

Die Stadt Karlsruhe hat durch den Standort der Landeserstaufnahmestelle (LEA) landesweit eine sehr hohe Belastung bei den Inobhutnahmen von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu tragen. Alleine für die Altersschätzung und die Inobhutnahme werden sieben Stellen durch die Stadt finanziert. Dazu kommen noch ca. drei Stellen in der Wirtschaftlichen Jugendhilfe (Jahresaufwand aller Planstellen über 500.000 Euro). Hier wäre die finanzielle Unterstützung des Landes notwendig.

Nicht eingerechnet ist der Aufwand für die unter 7b) erwähnten Jugendlichen, die auf Dauer in Karlsruhe verbleiben, da diese aufgrund des Verteilsystems bei allen Jugendämtern in Baden-Württemberg auftreten.

 

Stadt Karlsruhe
Der Oberbürgermeister

31.05.16

 


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