Der einzige ehrliche Ausweg aus der Coronakrise und die falschen Versprechen der Lockerungslobby

Katja Kipping, 29.04.2020
Was uns die Lockerungslobby als Exitstrategie verkauft, führt uns nicht raus aus
der Coronakrise, sondern nur rein in eine zweite besonders heftige Infektionswelle
und stellt die Wirtschaftskrise auf Dauer. Dies birgt Gefahren für unser aller Gesundheit wie für die Wirtschaft. Der realistische Ausweg aus der Coronakrise lautet
#stopthevirus

Die Rufe nach Lockerungen werden immer lauter. Und zur Lockerungsdynamik gehört,
dass einzelne Lockerungen nicht etwa zum Innehalten führen. Vielmehr verstärkt jede
einzelne Lockerung die Vehemenz, mit der nach weiteren Lockerungen verlangt wird.
Wenn kleine Läden öffnen dürfen, warum dann nicht auch große Kaufhäuser? Wenn die
Kaufhäuser wieder öffnen dürfen, warum nicht auch die Gaststätten? Ja und wenn die
Gaststätten öffnen dürfen, warum nicht auch die Hotels? Wenn wieder mehr Beschäftigte
auf Arbeit gefragt sind, müssen ja tagsüber die Kinder versorgt sein, also gerät auch die
Kitaschließung unter Druck. Für Gläubige ist es schwer auszuhalten, dass man zwar wieder shoppen gehen kann, aber nicht zum Gottesdienst. Menschlich ist das alles mehr als
verständlich. Das Wegbrechen aller Einnahmen durch die Schließungen stellt viele Kneipen, Läden, Freiberufler und Kultureinrichtungen vor existentielle Fragen. Ich verstehe
den Wunsch vieler Eltern nach offenen Schulen und Kitas, erlebe ich doch am eigenen
Leibe, dass die Kombination von Homeoffice und Homeschooling – so schön es zu Hause
mit dem eigenen Kind ist – an den Kräften zehrt. Wie muss es da Eltern mit mehreren
Kindern zu Hause oder gar Alleinerziehenden ergehen?
Kurs der Lockerungslobby
Der Wunsch nach Öffnung ist zutiefst verständlich. Mehrere Politiker, wie Christian Lindner, Armin Laschet aber auch die AfD knüpfen nun an dieser Sehnsucht an und forcieren
die Debatten um Lockerung.

Das weckt die Hoffnung auf eine Rückkehr in die alte Normalität vor Corona. Auch mir ist diese Sehnsucht nicht fremd. Wie schön wäre es, wenn
meine Eltern ihre Enkeltochter endlich wieder in den Arm nehmen könnten. Auch ich fiebere mit Freunden mit, deren Existenzen nun gefährdet sind. Doch das, was uns von
Lindner, Laschet und Co. da als Exitstrategie verkauft wird, führt uns nicht raus aus der
Coronakrise. Diese Lockerungswelle droht, uns nur in eine zweite, besonders heftige Infektionswelle zu führen. Und dies birgt große Gefahren für unser aller Gesundheit, wie
für die Wirtschaft.
Merkels Kurs der abgebremsten Durchseuchung
Im Gegensatz zur Lockerungslobby setzt Angela Merkel auf behutsame Lockerungen.
Doch im Grunde funktioniert der Kurs der Bundesregierung nach dem Muster: ein Schritt
vor – abwarten – dann vielleicht wieder ein Schritt zurück. Vor und zurück – so kann man
am Lautstärkeregler agieren, um die optimale Lautstärke einzustellen. Aber funktioniert
so Gesellschaft? Ich bin da skeptisch und befürchte, dass hier Nebenwirkungen außer
Acht gelassen werden. So führt doch allein die ständige Debatte über mögliche Lockerungen bei vielen zu dem Gefühl: Puh, jetzt wo die Lockerung in aller Munde ist, können
wir selber ja auch wieder entspannter an den Infektionsschutz rangehen. So brechen
nach und nach im Alltag alle Dämme. (Ich gestehe, ich habe diesen Effekt auch bei mir
beobachtet.)
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Auch wenn Merkel reflektierter wirkt als Laschet, Lindner und Co., zielt ihr Kurs letztlich
nicht darauf, das Virus zu stoppen, sondern lediglich darauf, die Infektionskurve abzuflachen. In den sozialen Medien wurde diese Strategie unter dem Hashtag #flattenthecurve
bekannt. Dieser Kurs erfordert Reproduktionszahlen um die Eins. Soll heißen, ein Infizierter steckt im Schnitt maximal einen weiteren an. Dieser Kurs hat den Vorteil, dass die
Intensivstationen nicht überfordert werden, aber den Nachteil, dass die teilweisen Einschränkungen sich über einen langen Zeitraum strecken werden. Um es zuzuspitzen:
Auch Angela Merkel setzt auf eine Durchseuchung, wenn auch eine abgebremste. Doch
ist die Durchseuchung wirklich der richtige Weg?
Preis der Durchseuchung
In den USA sprach es der konservative Politiker Dan Patrick bereits öffentlich aus: Groß-
eltern müssten bereit sein zu sterben, um die Wirtschaft für ihre Enkel zu retten.1 Das ist
die entmenschlichte Marktradikalität konsequent zu Ende gedacht. Bisher wurde die
Frage, wie viel Menschenleben das Ankurbeln der Wirtschaft wert ist, hierzulande eher
verdrängt oder wegmoderiert. Doch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer schlug
vor wenigen Tagen in die gleiche Kerbe als er sagte, dass wir durch die Beschränkungen
„möglicherweise Menschen [retten], die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“2. Mit dieser Begründung könnten wir im
Grunde jegliche lebensverlängernden Maßnahmen in der Medizin sein lassen. Andere
sind weniger direkt. So setzen viele, die für ein Ende der Beschränkungen sind, bewusst
oder unbewusst auf Herdenimmunität. Um diese zu erreichen, müssten ca. 70 Prozent
der Bevölkerung einmal an Covid19 erkranken. Das sind ca. 57 Millionen. Man könnte
nun die Mortalitätsraten nehmen und errechnen, wie viele Tote es bis zur Durchseuchung
von 70 Prozent der Bevölkerung geben würde. Je nachdem, welche Rate man zu Grunde
nimmt, entspricht die Zahl der Toten der Einwohnerzahl einer Stadt wie Erfurt oder der
doppelten Einwohnerzahl von Dresden. Und womöglich würde man am Ende feststellen,
dass eine einmalige Erkrankung gar nicht zur dauerhaften Immunität führt. Bisher hat die
Wissenschaft keine gesicherten Erkenntnisse.
Einige meinen, es müssten die Risikogruppen, gemeint sind damit dann oft die Alten, halt
isoliert werden, damit für die anderen das normale wirtschaftliche Leben weitergeht. Doch
wer meint, unter 60 und fit zu sein, schütze einem vor einem tödlichen Verlauf der Erkrankung, irrt leider. Auch fitte 50-Jährige werde inzwischen beatmet und es gibt 40-Jährige, die an den Folgen der Covid-19-Erkrankung verstarben. Und wollen wir wirklich eine
Gesellschaft, in der alle Risikogruppen komplett isoliert leben? Und wohin führen solche
Isolationsgedanken? Hinzukommt, je mehr Menschen den Virus haben, umso größer ist
rein statistisch die Gefahr, dass sich ältere Menschen alleine beim Einkauf den Virus
einfangen.
Auch wissen wir noch wenig über mögliche dauerhafte Folgeschäden bei denen, die als
genesen gelten. Auf eine mündliche Anfrage bestätigte der Vertreter der Bundesregierung im Gesundheitsausschuss, dass es Fälle von schweren Lungenschäden nach der
Genesung gibt. Dazu wird nun eine Studie verschiedener Unikliniken durchgeführt.
Und glauben wir wirklich, die Wirtschaft würde wieder florieren, wenn die Infektionszahlen
explodieren und die Zahl der Toten steigt?
1 https://twitter.com/katjakipping/status/1242400241124552705
2 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.coronavirus-in-deutschland-boris-palmer-wir-rettenmenschen-die-moeglicherweise-sowieso-bald-sterben.3058978a-08dc-42f0-9e98-
5ccba1e4a96c.html?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter
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Zick-Zack-Kurs ökonomischer Irrsinn
Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung argumentiert, dass die (langfristigen) Kosten einer zu frühen Lockerung viel höher ausfallen werden als bei einer
nachhaltigen und langsamen Lockerung: „Noch schädlicher als länger anhaltende Kontaktbeschränkung wäre eine kurze Lockerung gefolgt von einer neuen, noch mal längeren
Phase von Kontaktbeschränkungen“. 3 Bei solch einem Zick-Zack-Szenario würde
schließlich die Summe der Umsatzausfälle und Betriebsschließungen besonders hoch
ausfallen. Ja uns droht ein Zick-Zack-Kurs: Die übereilten Lockerungen führen zu höheren Infektionszahlen, darauf wird die Regierung mit erneuten Schließungen reagieren.
Und dann wird absehbar die Lockerungslobby in CDU, FDP und AfD die Beschlüsse unterlaufen, um dann wieder ermahnt zu werden, und alles beginnt wieder von vorne. So
sieht jedenfalls keine langfristige, aussichtsreiche Wirtschaftssteuerung aus – und auf die
kommt es an, wenn wir nachhaltig aus der Krise herauswollen.
Das Setzen auf Durchseuchung ist also ökonomisch fragwürdig und hat zudem menschlich einen hohen Preis: hunderttausende bis über eine Million Tote und womöglich
schwere Folgeschäden bei Genesenden. Da kaum jemand hierzulande wirklich diesen
Preis bezahlen will, wird diese Frage eher verdrängt. Eine Form der Verdrängung besteht
darin, das Nachdenken über den Preis der Durchseuchung als Panikmacherei abzutun.
Oder man hofft, dass bald der Impfstoff kommt. Daran wird ja tatsächlich unter Hochdruck
geforscht, aber bevor er gesichert in den flächendeckenden Einsatz gehen kann, werden
wir wohl leider das Jahr 2021 schreiben.
Konsequent gegenüber Konzernen
Heißt das nun, dass wir bis dahin im Lockdown verharren sollen? Nein, es gäbe einen
Ausweg aus der Coronakrise: Und zwar den Virus zu stoppen. Ist das denn überhaupt
noch realistisch? Es ist auf jeden Fall realistischer und wirtschaftlich vernünftiger als der
Kurs der Lockerungslobby und als die abgebremste Durchseuchung. Dieses Land muss
sich eine Stop-the-virus-Politik leisten, um eine langandauernde Kombination aus verstetigter Pandemie und ökonomischer Dauerkrise zu vermeiden.
Dafür muss die Reproduktionszahl auf unter 0,5 gedrückt werden, um die 1 wird nicht
ausreichen, um das Virus mittelfristig zu stoppen.4 Um dieses Ziel zu erreichen, müsste
die Bundesregierung den Mut haben, gegenüber den großen Konzernen knallharte Vorgaben zu machen. So müssten z.B. alle Unternehmen wie Amazon wissen, dass man es
ihnen nicht durchgehen lässt, wenn sie beim Gesundheitsschutz schlampen. Der Einbau
von Virusbarrieren (z.B. Plexiglasscheiben, die die Verkäuferinnen schützen) muss verpflichtend sein. Womöglich muss für einige Wochen die gesamte nicht-systemrelevante
Produktion runtergefahren werden. Auf jeden Fall muss die Testkapazität enorm ausgeweitet werden.
Kurzum, die Regierung muss sich entscheiden, wirtschaftlich steuernd einzugreifen. Um
dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Seit Monaten ist ein enormer Bedarf an medizinischen Masken absehbar (und zwar die Modelle FFP 2 und 3, die auch die Maskentragenden effektiv schützen). Eine Regierung, die Mut zum wirtschaftlichen Steuern hat,
3 https://www.boeckler.de/pdf/p_imk_pb_88_2020.pdf?fbclid=IwAR1Owr6A5v9nfRkjyh6VGvFxLmSpi8z1Xh3sWWWP1mIjax-_FrUYBgpR0WU
4 Laut Helmholtz-Institut müsste die Reproduktionszahl bei 0,2 oder 0,3 liegen. https://m.tagesspiegel.de/wissen/wir-muessen-extrem-vorsichtig-sein-drosten-und-helmholtz-forscher-warnen-vor-zweiter-covid-19-welle/25756090.html?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwebaccess.die-linke.de%2Fowa%2F
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hätte Maßnahmen ergriffen, um die Produktion solcher Masken massiv hochzufahren,
mit Anreizen oder zur Not auch mit Eingriffen in Eigentumsrechte im Produktionsbereich.
Schließlich geht es um den Gesundheitsschutz der gesamten Bevölkerung.
Eingreifen muss die Regierung auch, wenn es nach der Corona-Krise darum gehen wird,
wer die Kosten der heute notwendigen Maßnahmen tragen wird. Und dafür gibt es eine
historische Referenz.
Vermögensabgabe
1952 führte Konrad Adenauer eine einmalige Vermögensabgabe im Rahmen des Lastenausgleichs für die Vertriebenen und Geschädigten des Zweiten Weltkriegs ein. Sie
betrug 50% (!) der Bemessungsgrundlage (Vermögen abzüglich Freibeträge) auf das
Vermögen von 19485. Die Bezahlung erfolgte gestreckt auf 30 Jahre, was faktisch eine
Bezahlung aus den Erträgen ermöglichte. Diese Maßnahme war eine wichtige Voraussetzung für das westdeutsche Wirtschaftswunder in der 50er Jahren.
Es heißt, die Corona-Pandemie sei die größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Deshalb gilt es, sich von diesem Beispiel inspirieren lassen und die im Grundgesetz
ausdrücklich vorgesehene einmalige Vermögensabgabe zu nutzen. Dabei sollten wir vor
allem das reichste 1 Prozent der Bevölkerung zur Kasse bitten. Auf keinen Fall dürfen die
Kosten der Krise auf jene abgewälzt werden, die gerade noch als systemrelevant bejubelt
wurden, aber meist unterdurchschnittlich verdienen. Um der Wirtschaftsrezension entgegenzusteuern, ist es notwendig, dass wir uns nach Corona von Austeritäts-Instrumenten
wie der Schuldenbremse verabschieden und stattdessen ein Zukunftsinvestitionsprogramm für Klimaschutz und soziale Infrastruktur auflegen.
Sozialer Schutzschirm
Dieser Ausweg aus der Coronakrise kann nicht mit Lockerungen beginnen, vielmehr
muss er mit einem wirksamen sozialen Schutzschirm für die Menschen beginnen. Wichtige Bestandteile dieses Schutzschirms sind ein Kurzarbeitergeld, das mindestens 90
Prozent des bisherigen Lohnes entspricht; ein Corona-Überbrückungsgeld für alle Freiberufler, Selbstständige, Minijobbende und Kunstschaffende, denen jetzt die Einkommen
wegbrechen; ein 200-Euro-Corona-Aufschlag auf alle monatlichen Sozialleistungen und
ein Corona-Elterngeld für alle, die wegen der geschlossenen Kitas und Schulen nur eingeschränkt ihrer Erwerbsarbeit im Homeoffice nachgehen können oder eben einer garantierten Lohnfortzahlung in diesem Fall.
Zu diesem sozialen Schutzschirm gehört auch eine Politik der Ermöglichung für jene, die
von den Einschränkungen besonders betroffenen sind. So sollte natürlich die Notbetreuung geöffnet werden für Kinder von Alleinerziehenden. Mehr Schutzräume müssen geschaffen werden für Menschen, die vor häuslicher Gewalt fliehen müssen. Zudem gilt es,
in Pflegeheimen gelegentliche Besuche unter Einhaltung des Infektionsschutzes zu ermöglichen: Entweder durch Besuche über den Gartenzaun unter freiem Himmel, bei denen der Mindestabstand garantiert ist. Oder die Heime werden mit Besuchsboxen nachgerüstet, in denen die Seniorinnen und Senioren unter Einhaltung des Infektionsschutzes
ihre Enkel und Urenkel treffen können. In Sachsen gibt es bereits ein Modellprojekt dafür.
Damit diese Lösung flächendeckend kommt, muss die Bundesregierung die bauliche
Nachrüstung finanzieren.
Und um Missverständnisse auszuschließen: Das Virus zu stoppen bedeutet ausdrücklich
5 https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/lastenausgleich
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nicht, dass der Infektionsschutz als Vorwand missbraucht wird, um pauschal jeglichen
politischen Protest und demokratische Grundrechte, wie die Versammlungsfreiheit, auszusetzen oder arbeitsrechtliche Standards wie den 8-Stunden-Tag auszuhebeln. Inzwischen entwickeln die verschiedenen Initiativen Protestformen, die deutliche Botschaften
setzen und trotzdem mit Infektionsschutzregeln vereinbar sind. So setzte Fridays for Future statt auf eine Demo von vielen auf ein starkes Bild mit unzähligen selbstgestalteten
Plakaten auf der Wiese vorm Bundestag.
Das Virus zu stoppen wird nicht einfach, aber letztlich ist es der einzige ehrliche Ausweg
aus der Coronakrise. Der soziale Schutzschirm, der dazu notwendig ist, wird uns zunächst einiges kosten. Das Virus zu stoppen kostet aber letztlich viel weniger als die
falschen Versprechen der Lockerungslobby und weniger als der drohende Zick-ZackKurs von Lockerung und Shutdown – weniger Euro und definitiv weniger Menschenleben.
Und deshalb müssen wir raus aus der Spirale der Lockerungsdebatte und rein in eine
ernsthafte Verständigung darüber, wie wir das Virus stoppen können, welches konsequente Durchgreifen gegenüber Konzernen dafür notwendig ist und welchen sozialen
Schutzschirm wir dafür aufspannen.