Entwicklung sozialistischen Bewußtseins und Träger einer sozialistischen Politik (1)

11. September 2016  Theoretische Beiträge

von

Dr .Peter Behnen

Strategische Diskussionen in der Linken sind immer wieder durch Ratlosigkeit geprägt. Die Finanzmarktkrise 2007/2008, die anschließende Weltwirtschaftskrise und die Eurokrise haben den Kapitalismus kurzzeitig erschüttert, aber in keinem der beteiligten Länder war das „ eine Stunde der Linken.“ Das bedeutet, es konnte keine radikale Bewusstseinsveränderung zu Gunsten der Linken entwickelt werden. Es gelang den herrschenden Eliten durch Rettungsschirme, Garantieversprechen und weitere Antikrisenmaßnahmen die Gefahr eines Systemzusammenbruchs zu bannen und das Bewusstsein der meisten Bürger auf einer systemkonformen Linie zu halten. Es entstand eher die Frage, wer die Kosten der Rettungsprogramme tragen sollte. In dieser Situation erhielten rechtspopulistische Organisationen Zulauf, vor allem wegen ihrer Kritik am Eurosystem und den südeuropäischen Krisenländern und zuletzt wegen ihrer massiven Opposition gegen die Aufnahme von Schutzbedürftigen aus dem Nahen Osten, Afrika und den Balkanländern. Nationale Vorurteile und Ressentiments haben Konjunktur aber gerade kein den Kapitalismus in Frage stellendes Bewusstsein.

 

Wieder einmal zeigte sich, dass es keinen linearen Zusammenhang von Krise und revolutionärem Bewusstsein gibt. Die Vorstellung bei einigen Linken, dass die Krise möglichst scharf sein müsse um ein revolutionäres Bewusstsein zu erzeugen hat jedenfalls mit der Marxschen Theorie nichts zu tun. Marx hat mit seiner Kritik der politischen Ökonomie eine Gesellschaftstheorie vorgelegt, die einen Zusammenhang von ökonomischen Verhältnissen, sozialen Beziehungen und Bewusstseinsformen herstellt. Die ökonomische Grundstruktur im täglichen Leben ist auch der Anknüpfungspunkt für das Alltagsbewusstsein der Bürger. Im ökonomischen Alltag sind die Gesellschaftsmitglieder des Kapitalismus Besitzer verschiedener Einkommensquellen, sie beziehen Arbeitslohn, Profit, Zins und Grundrente. Durch die beständige Wiederholung (Reproduktion) dieser Verhältnisse entsteht der falsche Schein, dass die Wertschöpfung der zugrunde liegenden Produktion aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden hervorgerufen wird. Der wirkliche Zusammenhang, dass nach dem Verkauf der Arbeitskraft der Lohnabhängige den Wert und Mehrwert schafft, wird verschüttet. Vor allem die Form des Arbeitslohnes ruft den Schein hervor, nicht die Arbeitskraft sondern die Arbeit sei entgolten worden. Zugleich wird im Alltagsleben und Alltagsbewusstsein dem Umstand Rechnung getragen, dass die Gesellschaftsmitglieder eine entwickelte Individualität und Elastizität entwickelt haben. In das Alltagsleben sind also beide Elemente des Bewusstseins eingebunden, einmal die unbewusste Wiederholung eines Herrschaftsverhältnisses und Ausbeutungsverhältnisses in der Produktion und gleichzeitig die Vorstellung, ein freies und den Erfolg selbst bestimmendes Subjekt zu sein. Die Produktionsverhältnisse erscheinen als natürliche und der freie Wille und die eigene Leistung seien maßgebend für die gesellschaftliche Stellung. Dieses Bewusstsein entspricht ihrer Stellung als Warenbesitzer, die mit der Vorstellung von Freiheit, Gleichheit und Eigentum verbunden ist. Erst auf dieser Basis können Instanzen wie zum Beispiel der Staat und die Medien ihre Wertorientierungen massenwirksam unterbringen. Es handelt sich also um eine rückwirkende Befestigung von schon bestehenden Wertvorstellungen. Gleichwohl bleibt das Alltagsbewusstsein der Lohnabhängigen widersprüchlich bestimmt, weil sowohl die Herrschaftsverhältnisse in der Lohnarbeit als auch die Probleme in den sonstigen Lebensverhältnissen Teil ihrer täglichen Erfahrungen bleiben.

 

Die Frage ist somit, wie sich dieses widersprüchliche Bewusstsein im Sinne einer kapitalismuskritischen Sichtweise auflösen lässt?

 

Die Struktur des Kapitalismus im Neoliberalismus und Finanzkapitalismus ist durch eine erhöhte Unsicherheit im Alltagsleben vieler Gesellschaftsmitglieder gekennzeichnet. Es wird ein widersprüchlicher Prozess in Gang gesetzt. Einerseits werden Selbstverantwortung und Flexibilität als zivilisatorische Ergebnisse des Kapitalismus hervorgebracht, andererseits verschärft sich die Selbstverantwortung der Arbeitenden für ihre Arbeitskraft, soziale Sicherheiten werden Schritt für Schritt abgebaut. Die Gesellschaftspolitik des Neoliberalismus fällt hinter schon erreichte soziale Sicherheiten zurück, damit sind Lohnkürzungen, Arbeitszeitverlängerungen, Arbeitsverdichtungen, Rücknahme von Arbeitnehmerrechten u.s.w. verbunden. Es erweist sich, dass ein „gutes Leben“ unter solchen Verhältnissen unmöglich wird und es kann das Bewusstsein entstehen, sich aus dieser Umklammerung befreien zu müssen. Es entstehen Bedingungen, die eine demokratisch-sozialistische Umgestaltung unter entwickelten kapitalistischen Verhältnissen ermöglichen.                                                                                               Das ist eine ganz andere historische Situation als die in noch unterentwickelten kapitalistischen bzw. halbfeudalen Ländern, zum Beispiel die Situation in Russland zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Die Arbeiterklasse befand sich in der Minderheit, soziale Bewegungen waren nur durch Bündnisse mit Bauern und Kleinbürgertum möglich. Später versuchten andere unterentwickelte Länder die Umgestaltung als Folge von Kriegsereignissen oder Bürgerkriegsverhältnissen häufig unter Führung der Sowjetunion und damit auch durch Übernahme ihres Sozialismusmodells. Nach dem 2. Welt-krieg geriet das sozialistische Lager im Zuge der Systemkonkurrenz in die Defensive, insbesondere was die Produktivität, den Lebensstandard und persönliche Freiheiten gegenüber dem Kapitalismus angeht. Das realsozialistische System brach zusammen, was viele Zeitgenossen zu der Annahme führte, die sozialistische Alternative sei endgültig zu Grabe getragen.

Wir haben allerdings gesehen, dass im Finanzkapitalismus die soziale Unsicherheit massiv zunimmt. Das bestärkt verunsicherte Bürger in ihrer Empfänglichkeit für vermeintlich einfache Antworten auf komplizierte ökonomische, soziale und politische Sachverhalte. Es entstehen Ressentiments und Vorurteile bis zum Nationalismus auf breiter Basis.                              

 

Es stellt sich für die Linke die Frage, über welche Stellschrauben diese Bewusstseinsentwicklung aufgehalten und in eine demokratisch-sozialistische Entwicklung umgekehrt werden kann?

 

Die Aufgabenstellung ist einmalig, es geht darum, jenseits ökonomischer und politischer Ausnahmesituationen und im Rahmen politisch-demokra-tischer Verhältnisse, einen evolutionären Weg zur sozialistischen Umgestaltung zu finden. Eines muss klar sein, die Gesellschaftsstruktur heute ist sehr differenziert und weist einen Anteil von 60 Prozent von Lohnabhängigen und nur noch geringe Anteile von Bauern und Vertretern der traditionellen Mittelklassen( Kleinbürgertum) auf. Nur durch die Herstellung einer inneren Klasseneinheit der Lohnabhängigen, der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und der nicht Erwerbstätigen lässt sich eine Mehrheit für eine fortschrittliche Politik in Richtung einer sozialistischen Umgestaltung organisieren. Es sind Bündnisse und Aktionseinheiten mit Gruppen möglich und notwendig, die soziale Verbesserungen, die Verteidigung demokratischer Werte und die Absage an inhumane Verhaltensweisen unterstützen. Das sind oftmals auch gesellschaftliche Gruppen, die einer sozialistischen Zielrichtung oft fremd bis ablehnend gegenüberstehen. Es geht ferner um die Neutralisierung der Propaganda der Vertreter der vorhandenen Ordnung in Wirtschaft, Politik und auch Medien. Es muss schrittweise eine geistig kulturelle Hegemonie der fortschrittlichen Kräfte erreicht werden, bevor die Kräfteverhältnisse im politischen Raum verändert werden können. Es gilt die gröbsten Mängel des Finanzkapitalismus im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung anzugehen, wodurch eine Grundlage für weitere Veränderungen mit der Zielrichtung einer sozialistischen Transformation geschaffen wird. Es muss deutlich werden, dass eine erhöhte Selbstverantwortung der Bürger einer weitgehenden sozialen Absicherung bedarf und dass das unter finanzkapitalistischen Bedingungen nicht möglich ist. Die Beschränkung auf eine Umverteilung von Einkommen und Vermögen ist allerdings zu wenig, sondern es muss kommuniziert werden, dass es um ein quantitativ und qualitativ besseres Angebot an Gütern und Dienstleistungen und eine Ausweitung freier Zeit geht. Auch das ist unter finanzkapitalistischen Bedingungen nicht möglich. Der Politikwechsel zu einer Demokratisierung aller Lebensbereiche, einer makroökonomischen Strukturpolitik, neuer ökonomischer und gesellschaftlicher Steuerungsinstanzen und neuer Eigentumsverhältnisse ist nur der abschließende Akt der vorherigen Erkämpfung hegemonialer Positionen in außerparlamentarischen und parlamentarischen Organisationen und Institutionen. Das gilt sowohl für die nationale Ebene als auch darauf aufbauend für den übernationalen Verbund der Europäischen Union.

 

Die abschließende Frage ist, wer die Träger einer solchen Politik sein können?

 

In einer pluralistisch zusammengesetzten Bewegung haben Gewerkschaften einen wichtigen Stellenwert. Auf dem Gründungskongress des DGB im Jahre 1949 wurde noch das Konzept einer grundlegenden Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft vertreten, das heißt, eine rationale Planung in der Volkswirtschaft durchzuführen, Schlüsselindustrien in Gemeineigentum zu überführen, die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in allen ökonomischen und sozialen Fragen zu erreichen und eine sozial gerechte Verteilung von Einkommen und Vermögen vorzunehmen. Dieses Konzept hat bis heute höchste Aktualität. Es geriet allerdings in der Zeit beschleunigten Wachstums in der Bundesrepublik zu Gunsten der aktuellen Tarifpolitik in den Hintergrund. Mit der Entwicklung der strukturellen Überakkumulation in den 70er Jahren wurden die Kräfteverhältnisse zu Ungunsten der Gewerkschaften verschoben , insbesondere auch durch Deregulierungen am Arbeitsmarkt, die von den Konservativen und auch der Sozialdemokratie durchgesetzt wurden. Erst der Ausbruch der Finanzkrise 2007/2008 stoppte den Niedergang der Gewerkschaften. Es ist jedoch noch ein weiter Weg, bis wieder ein umfassendes kritisches Bewusstsein gegenüber der Kapitalseite zurückgewonnen worden ist. Gewerkschaften müssen das widersprüchliche Bewusstsein der Lohnabhängigen aufgreifen und illusorische Momente dieses Bewusstseins zurückdrängen. Das muss im Rahmen der Tarifpolitik, aber auch in der Bildungsarbeit passieren und ebenfalls in der kritischen Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie und ihrer Politik der Agenda 2010.

Ein weiterer Träger einer alternativen Politik jenseits der Gewerkschaften und Parteien sind die neuen sozialen Bewegungen. Sie waren anfangs in der Regel auf einen Politikbereich bezogen. Mit der Erledigung des Themas zerbrachen viele Initiativen, manche der Mitglieder fanden aber bei den Grünen eine neue politische Heimat. Mit dem Siegeszug des Finanzkapitalismus entstand mit Attac eine globalisierungskritische Nichtregierungsorganisation(NGO), zu der inzwischen viele Personen aus dem Mitte-Links-Spektrum gehören. Es werden wichtige Forderungen wie die Einführung einer Finanztransaktionssteuer. die Abschaffung von Steueroasen, die Erhaltung und den Ausbau des Sozialstaates etc. erhoben. In den USA entwickelte sich mit „Occupy Wallstreet“ eine Bewegung gegen die zerstörerische Wirkung der Finanzindustrie. Im Unterschied zu Attac hat die Occupy-Bewegung noch keine feste Strukturen sondern einen eher spontanen Charakter. Beide Organisationen bzw. Bewegungen sind als wichtige Bündnispartner für eine fortschrittliche sozialistische Politik anzusehen, insbesondere auch deshalb, weil sie eine internationale Dimension aufweisen können.

Die politische Linke ist seit dem letzen Jahrhundert in einen sozialdemokratischen und einen kommunistischen Flügel gespalten. In beiden Flügeln wurde das Krisenlösungspotential des Kapitalismus falsch eingeschätzt, was letztlich zum Bruch führte und den Großteil des letzten Jahrhunderts überdauerte. Die Weltwirtschaftskrise 1975 schien in der Sozialdemokratie unter Brandt, Kreisky und Palme eine Wende einzuleiten. Letztlich setzte sich jedoch wieder der Rückzug unter das Dach der „sozialen Marktwirtschaft“ durch. Die aufkommende neue Rolle der Vermögensbesitzer und das Aufkommen des Finanzkapitalismus und Neoliberalismus wurden nicht erkannt. Es hielt sich die Vorstellung, die Probleme auf bewährte sozialdemokratische Weise lösen zu können. Auf der anderen Seite blieben die kommunistischen Parteien des Ostblocks und auch die meisten in Westeuropa in ihrem orthodoxen Marxismus-Leninismus befangen. Innerhalb der Linken Westeuropas jenseits der Sozialdemokratie waren die 70er Jahre, nach dem Ende der autoritären Regime in Griechenland, Portugal und Spanien, ein Jahrzehnt strategischen Umdenkens, was im Eurokommunismus (Italien, Spanien, Frankreich) seinen Ausdruck fand. Der Eurokommunismus wurde von den orthodoxen marxistisch-leninistisch orientierten Parteien als „Sozialdemokratisierung“ abgeblockt und mit dem Scheitern des Eurokommunismus blieb auch die Erneuerung kommunistischer Politik in entwickelten kapitalistischen Staaten auf der Strecke. Die meisten kommunistischen Parteien wurden endgültig zu Grabe getragen oder führen ein randständiges Dasein seit der Staatssozialismus in Osteuropa 1989/90 kollabierte.

Eine besondere Entwicklung nahm die Linke in Deutschland. Seit 2007 erfolgte ein Zusammenschluss der WASG und der PDS zur heutigen Partei „Die Linke“. Sie versteht sich als pluralistische Linke, die verschieden linke Strömungen vereinigt und ist seit 2013 die größte Oppositionspartei mit einem Stimmenanteil von rund 10 Prozent. Die Sozialdemokratie wendete sich spätestens seit der Agenda-Politik zu einer Partei, die den Kapitalismus nur noch verwaltet, wesentlichen Anteil am Sozialabbau hat und ihre Politik den Finanzmärkten unterordnet. Inzwischen ist die Partei im 25%-Turm gefangen ohne zu einer selbstkritischen Korrektur ihrer Programmatik gekommen zu sein. Bisher gelingt es der Linkspartei nicht, einen wirksamen Druck aufzubauen, der die Sozialdemokratie zum wirklichen Umdenken bringen könnte. Der aktuelle Befund lautet also, dass es noch ein gutes Stück an Bewegung in der SPD, den Grünen und auch der Linkspartei braucht, um zu einem Politikwechsel in Richtung eines linken Minimalkonsenses zu kommen. Dazu bedarf es intensiver Diskurse über konzeptionelle Alternativen gegenüber der herrschenden Politik und gemeinsame Aktionen auch mit außerparlamentarischen Kräften. Für den Fall, dass es in Zukunft zu einer Regierungsübernahme eines pluralistischen Parteienbündnisses kommt, geht es um die Realisierung des politischen Minimalkonsenses. Dann ist mit massivem Widerstand der alten gesellschaftlichen Kräfte in Politik und Medien zu rechnen. Nur rasche Anfangserfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik können zu fühlbaren Verbesserungen für größere Bevölkerungsteile und einen Umschwung in der öffentlichen Meinung führen. Unterstellt, eine Koalition linker fortschrittlicher Kräfte würde sowohl im Inland als auch in Europa zu einer grundlegenden Abkehr von der Austeritätspolitik mit sichtbaren Erfolgen kommen, stellt sich die noch schwierigere Aufgabe, die weiterführenden Elemente einer sozialistischen Umgestaltungspolitik politisch mehrheitsfähig zu machen. Der evolutionäre Übergang zu einer demokratischen marktsozialistischen Gesellschaft besteht aus vielen kleinen Schritten, der mit Sicherheit von den Verteidigern des Kapitalismus heftig bekämpft wird. Die Verteidigung der linken Hegemonie auf demokratische Weise bleibt deswegen eine Daueraufgabe.

 

(1) Siehe hierzu: Stephan Krüger, Wirtschaftspolitik und Sozialismus, VSA-Verlag, Hamburg 2016, S. 517ff.