Kevin Kühnerts Sozialismus

11. Mai 2019  Allgemein

Es war nicht zu erwarten, dass die Große Koalition einen grundlegenden Politikwechsel einleiten würde. Eine mittelfristige Alternative zu dieser Politik wäre eine linkspluralistische Reformregierung aus SPD, Grünen und der Linkspartei. Dazu bedürfte es allerdings eines Konsenses bezüglich einer Beendigung der Austeritätspolitik, einer Strukturpolitik, die grundlegende Probleme des Kapitalismus angeht und von Perspektiven, die schwächere Volkswirtschaften der EU und der Eurozone stabilisiert. Es ist notwendig, dass die SPD, die Grünen und die Linkspartei einen Minimalkonsens erreichen und Widerstände in den eigenen Reihen gegen eine solche Orientierung entschlossen begegnen. Die Situation in der Bundesrepublik sieht augenblicklich so aus, dass weder eine klare Hegemonie für eine Fortsetzung der Politik der etablierten Parteien noch für eine grundlegende Reformalternative existiert. Es ist deutlich geworden, dass ein großes Unbehagen über die tiefe soziale Spaltung in unserer Gesellschaft besteht und eine weitgehende Orientierungslosigkeit bezüglich ihrer zukünftigen Entwicklung. Das hat dazu beigetragen, dass einfache Lösungen von Rechtspopulisten ihren Niederschlag in der Bevölkerung und teilweise auch in der Politik fanden. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, dass sich Linke auf eine Reformalternative verständigen und versuchen müssen, die Perspektive eines grundlegenden Politikwechsels im Bewusstsein weiter Bevölkerungsteile zu verankern. Es muss die Hoffnung bestehen, dass eine linke Reformpolitik eine Wende zum Besseren erbringt, sowohl durch ihre inhaltlichen Vorschläge als auch durch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, das den Vertretern einer linken Politik entgegengebracht wird. Die einzelnen Reformvorschläge müssen zu einem stimmigen Gesamtpaket zusammengebracht werden und die Überzeugung vermitteln, dass die Versprechen der Vertreter des Kapitalismus nicht in der sogenannten sozialen Marktwirtschaft sondern nur in einem demokratischen Sozialismus zu verwirklichen sind.

Vor diesem Hintergrund und auf Basis der Marxschen Theorie soll nun ein Interview dargestellt und beurteilt werde, das Kevin Kühnert, der Bundesvorsitzende der Jusos, mit der ZEIT bzw. mit ZEITONLINE geführt hat. (1) Die Journalisten Jochen Bittner und Tina Hildebrandt (Im Folgenden Z genannt) beginnen mit der Frage, welche grundlegende Kritik Kevin Kühnert (Im Folgenden K genannt) an der bestehenden Gesellschaftsordnung habe. K. plädiert für eine „Welt freier Menschen, die kollektive Bedürfnisse in den Vordergrund stellt und nicht das Profitstreben.“ K. hält an dem Grundsatz fest, dass das, was unser Leben bestimme, in gesellschaftlicher Hand sein und demokratisch entschieden werden sollte. Dem Einwand von Z., es handele sich dabei doch um die soziale Marktwirtschaft, hält K. entgegen, dass offensichtlich die Versprechungen der Vertreter der sozialen Marktwirtschaft, die eine Variante des Kapitalismus sei, nicht eingehalten werden könnten. Zum Kapitalismus im Allgemeinen formuliert K: „Es gibt Leute, die Kapital besitzen und Leute, die dieses Kapital erarbeiten. Die Kapitalbesitzer sind in unserer Gesellschaft nicht zwangsläufig Fabrikbesitzer. Es sind auch Leute, die großen Immobilienbesitz haben, große Aktienpakete oder Fondsanteile. Die müssen nicht selbst produktiv tätig sein, sondern können ihr Kapital für sich arbeiten lassen. Über diese Freiheit verfügt in unserer Gesellschaft nur ein kleiner Teil, der Zugang zu Vermögen ist für die meisten faktisch nicht gegeben.“

Richtig an dieser Sichtweise von K. ist, dass wieder über Kapitalismus geredet werden muss und eine Konzentration von Vermögen stattgefunden hat. Richtig ist auch, dass ein Großteil der Bevölkerung davon ausgeschlossen ist. Allerdings sollte die Linke auch dazu beitragen, illusionäre Bewusstseinsformen, die „ökonomische Alltagsreligion“ wie Marx es nennt, und ihre Hintergründe deutlich zu benennen. Wenn gesagt wird, die Leute erarbeiten das Kapital, dann sollte auch gesagt werden, dass dieses Bewusstsein nicht unmittelbar gegeben ist, weil die Wertschöpfung in der Produktion aus dem Zusammenwirken von drei Produktionsfaktoren (Boden, Arbeit und Kapital) erklärt wird. Die Aneignung von Mehrarbeit und Mehrwert der Arbeitenden durch den Kapitalisten stellt sich an der Oberfläche der Gesellschaft verkehrt dar. Dafür sorgt auch die Kategorie des Arbeitslohnes, durch die alle Arbeit als bezahlt erscheint und nicht klar wird, dass nicht die Arbeit sondern die Arbeitskraft bezahlt wird.Es muss dann auch im Unklaren bleiben, wie Profite aus Immobilien, Aktien und Fonds entstehen und auch das Bewusstsein, es sei das Kapital selbst, das dort arbeitet. In Wirklichkeit geht es um die Verteilung des Mehrwerts an verschiedene Personenrubriken.

Aufsehen erregte die These von K., dass bestimmte Firmen, wie zum Beispiel BMW, zwar nicht verstaatlicht, sondern kollektives Eigentum werden sollten und er sich dagegen ausspricht, dass die jetzigen Eigentümer das alleinige Recht haben sollten, über den Gewinn zu verfügen. „Auch der Sozialismus wird und muss mit Marktmechanismen arbeiten. Das Ziel ist vielmehr, demokratische Kontrolle darüber, wie wir arbeiten und was wir produzieren.“  Dieses Ziel zu erreichen sei nur in vielen Schritten möglich. K. bringt als Ziel die Wirtschaftsdemokratie ins Spiel mit genossenschaftlichen Eigentumsformen und weitgehender Beteiligung der Beschäftigten. K. verdeutlicht, dass es heute nicht darum gehe zu alten Zeiten zurückzukehren. „Es geht nicht um ein bloßes Zurück. Richtig ist aber, dass es in einem ersten Schritt auch um restaurative Maßnahmen geht. Die soziale Sicherheit muss wieder erhöht werden. Eine Wiederherstellung des Sozialstaatsversprechens der Siebziger, Achtziger-Jahre in upgedateter Form mit echter Gleichstellung, Homeoffice und Ähnlichem wäre schon mal ein Anfang. Aber es wäre eben noch kein Sozialismus. Wenn ich Leute davon überzeugen will, dass eine bessere Welt vorstellbar ist als die, die sie vorfinden, dann mache ich nicht den zehnten Schritt vor dem ersten.“

Es ist K. zuzustimmen, dass ein Weg zum demokratischen Sozialismus nur in vielen Schritten möglich ist. Was allerdings bei K. unklar bleibt ist, warum unsere Gesellschaft selbst die Voraussetzungen schafft, die eine solche Lösung unabdingbar macht. Dazu hätte es einer Darstellung von grundlegenden Entwicklungstendenzen des Kapitalismus bedurft. Auch hier hätte die Marxsche Theorie weitergeholfen. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts haben wir es mit einem Strukturbruch des Kapitalismus zu tun. Es gelingt nicht mehr, den tendenziellen Fall der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate durch ein Steigen der Profitmasse auszugleichen. Die Folge war und ist, dass erhebliche Kapitalsummen, die sich nicht mehr ausreichend verwerten lassen, in den Finanzsektor abwandern. Hier sollen die Verwertungsprobleme durch Kurssteigerungen von Wertpapieren und Spekulationsgeschäfte auf eine kapitalistische Weise gelöst werden. Es kam hinzu, dass die neoliberale Politik diese Tendenz noch unterstützte mit dem Ergebnis, dass 2007/2008 die zweite große Krise des Kapitalismus entstand, die bis heute nicht überwunden ist. Der Zusammenbruch der Finanzmärkte und Immoblienmärkte wurde vor allem durch die Politik der Notenbanken und durch staatliche Konjunkturprogrammen verhindert. Es ist deutlich geworden, dass wir an einer Systemgrenze angelangt sind, die nur durch die schrittweise Verwirklichung eines demokratischen Sozialismus überwunden werden kann. Der demokratische Sozialismus ist also nicht, wie aus den Äußerungen von K. herauszulesen ist, die Verwirklichung einer Utopie, sondern der Weg, die Probleme des Kapitalismus, die der Kapitalismus hinterlässt, auf eine demokratische und zivile Weise anzugehen und zu lösen.

K. wurde für seine Kritik an der sozialen Marktwirtschaft von der Union, FDP, AFD und den Wirtschaftsverbänden heftig angegriffen (2). Widerspruch kam auch aus den Reihen der SPD. K. hat offensichtlich einen Nerv getroffen. Seine skizzierte Alternative sollte für die Linke aber auch in der politischen Öffentlichkeit der Anfang einer Diskussion sein. Es ist aber auch klar geworden, dass selbst erste Schritte gegen die gesellschaftlichen Mißstände von Seiten der herrschenden politischen Elite nicht akzeptiert werden und auch keine Diskussion darüber zugelassen werden soll. Es ist darüber hinaus damit zu rechnen, dass eine ernsthafte Umgestaltung des Kapitalismus massiv bekämpft werden wird. Deshalb ist eine mittelfristige Veränderung der politischen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik, der Eurozone und er EU insgesamt von entscheidender Bedeutung.

  • Siehe ZEITONLINE vom 1.5.19 bzw. die Ausgabe der ZEIT 19/2019.
  • Siehe auch Sozialismus aktuell vom 5.5.19

72u