Was ist eigentlich los in Hongkong?

04. Oktober 2019  Allgemein

WAS IST EIGENTLICH LOS IN HONGKONG? (1)

Seit Wochen werden durch unsere Medien Demonstrationen, zum Teil gewalttätige, in Hongkong gezeigt. Wenn Demonstranten nach dem Grund der Demonstrationen gefragt werden, dann wird zumeist geantwortet, es gehe um die Erkämpfung von Freiheitsrechten. Ein kritischer Beobachter sollte sich damit nicht zufriedengeben, sondern versuchen, historisch-politische und vor allem wirtschaftlich-soziale Hintergründe aufzuzeigen. Das kommt leider in unseren Medien zu kurz.

Zunächst ist festzuhalten, dass es an der besonderen Rolle Hongkongs liegt, dass die Massenproteste weltweit zum Thema werden. Chinas Aufstieg seit über 30 Jahren ist eng mit der Stellung Hongkongs verknüpft, es floss privates Kapital aus Hongkong, Taiwan und schließlich aus aller Welt in die VR China. Hongkong gilt dabei als wichtigste Brücke zwischen China und der westlichen Welt. Hongkong gilt als ein Paradies für privates Kapital, insbesondere wegen der niedrigen Besteuerung, geringen Regulierung des Finanzsektors und auch als Sammelplatz für Wirtschaftskriminelle. Hongkong wurde seit dem ersten Opiumkrieg (1839-1842) eine britische Kronkolonie, Nach der chinesischen Revolution von 1949 änderte sich zunächst nichts an diesem Status. Hongkong wurde jetzt zum Rückzugsort der chinesischen Bourgeoisie mit ihrem Vermögen aber auch zum Mittler beim Handel und Kapitalverkehr der VR China mit dem Westen. Aber es entstanden in Hongkong auch Unternehmen aus dem Bereich der Elektronik, Spielzeugwaren und der Textilbranche, in denen zumeist schlecht bezahlte Chinesen beschäftigt waren. Ab 1978 mit dem Beginn der chinesischen Wirtschaftsreformen begann der Zufluss ausländischen Kapitals in die chinesischen Sonderwirtschaftszonen, was eine weitere Stärkung des Standorts Hongkong bedeutete. Heute haben über 1500 multinationale Konzerne ihre Zentrale in Hongkong. Im Jahre 1997 ging die Souveränität Hongkongs mit dem Basic Law auf die VR China über.  Das bedeutete, dass die VR China nun für die Außenpolitik und Sicherheitspolitik Hongkongs verantwortlich wurde, die Unabhängigkeit des freien Kapitalverkehrs, der Eigentumsrechte und der individuellen Freiheiten blieben garantiert. Es gibt zwar eine gesetzgebende Versammlung, wobei die Hälfte frei gewählt und die andere Hälfte von Geschäftsleuten besetzt wird. Das heißt, die politische und vor allem wirtschaftliche Macht in Hongkong ist faktisch in der Hand einer kleinen Gruppe von Oligarchen. Der Vorschlag der Stadtregierung von 2014 ging dahin, dass alle Vertreter des Parlaments frei gewählt werden sollten, was allerdings damals von der Opposition abgelehnt wurde. Es wurde befürchtet, dass das eine politische Übernahme durch die VR China durch die Hintertür zur Folge gehabt hätte. Das passive Wahlrecht sollte an die Anerkennung der Formel „Ein Land zwei Systeme“ geknüpft werden.

Inzwischen wird Hongkongs Wirtschaft durch etwa 100 superreiche Chinesen kontrolliert, sie beherrschen die Märkte, insbesondere den Immobilienmarkt, die Häfen und die Versorgungsunternehmen. Eine Industriestruktur existiert nicht mehr, die Fabriken sind in die Volksrepublik umgezogen. Mit der Formel „Ein Land zwei Systeme“ wurde in Hongkong ein brutaler Kapitalismus festgeschrieben. Für Chinas Reiche und Neureiche ist Hongkong die erste Station der Geld- bzw. Kapitalanlage, vermutlich auch für einige Mitglieder aus der Führungsebene der KP Chinas. Die Kapitalflucht aus China hält bis heute an. Trotz dieser negativen Seite der Sonderstellung Hongkongs hat die Regierung der Volksrepublik kein Interesse daran, diesen Sonderstaus zu verändern. Damit trägt sie allerdings zur Vertiefung der sozialen Konflikte in Hongkong bei.

Hongkong ist sozial zutiefst gespalten. Es gibt keine soziale Absicherung, die Hälfte der Bewohner leben zur Miete in winzigen Wohnungen, bei einem Durchschnittslohn von etwa 2200 US-Dollar monatlich, während viele Mietwohnungen bei 2500 US-Dollar monatlicher Miete liegen. (2)  Selbst gut ausgebildete Bewohner von Hongkong haben eine unsichere Lebensperspektive. Die Protestaktionen und Demonstrationen werden vor allem von Studenten und Schülern und der jungen Mittelschicht getragen, weniger von armen Bevölkerungsteilen aber durchaus auch von Teilen der reichen Bevölkerung. Der Auslöser der massenhaften Demonstrationen war die geplante Verabschiedung eines Auslieferungsgesetzes an die VR China. Augenblicklich dürfen Bürger mit einem Hongkong-Pass nicht an China ausgeliefert werden, das ist Teil des Basic Laws von 1997. Die chinesische Regierung drängte darauf, das Gesetz zu verabschieden, weil Straftäter, die sich aus Sicht der chinesischen Regierung strafbar gemacht hätten, unbehelligt in Hongkong leben könnten. Das traf bzw. trifft auf etwa 300 chinesische Bürger zu, denen Wirtschaftsverbrechen vorgeworfen werden. Das gelte auch für korrupte Parteifunktionäre, die sich in Hongkong aufhielten. Die Demonstranten in Hongkong vermuten allerdings in dem Gesetz einen Versuch der chinesischen Regierung, die Opposition in Hongkong zu verfolgen. Inzwischen hat die Stadtregierung Hongkongs das Gesetz ganz zurückgezogen. Aber es stehen noch weitere Forderungen der Demonstranten im Raum, u. a. die Forderung von freien Wahlen in Hongkong. Eine starke Strömung der Opposition will ein völlig unabhängiges Hongkong. Der Hauptfeind ist für viele Demonstranten die VR China, vor allem auch für den strikt antikommunistischen Milliardär Jimmy Lai, der Ressentiments in seinen Boulevardblättern schürte. Er gilt als ein Sponsor der Demonstrationsbewegung. Die Basis für die antikommunistische Stimmung findet sich in den Mittelklassen, deren Wohlstand zunehmend erodiert. Für sie rührt ihre Deklassierung nicht in dem System der Hongkonger Oligarchie, sondern für sie ist die VR China die Ursache allen Übels. China hat zwar wiederholt erklärt, eine Eskalation der Gewalt nicht länger dulden zu wollen aber gleichzeitig die Hoffnung geäußert, dass die Verwaltung Hongkongs die Probleme selbst in den Griff bekommt. Hochrangige Regierungsvertreter in Peking haben inzwischen kritisiert, dass das kapitalistische System Hongkongs die soziale Krise nicht entschärft habe, vor allem nicht für günstigen Wohnraum gesorgt und im Gegenteil Bauland an Immobilienhaie vergeben habe. Die VR China wird auf absehbare Zeit den Status Hongkongs in Bezug auf Außenpolitik und Sicherheitspolitik nicht aufgeben, aber vielleicht wird der Gesetzentwurf von 2014, den damals die Opposition abgelehnt hatte, erneut vorgelegt werden. Das würde freie Wahlen für die gesamte gesetzgebende Versammlung in Hongkong erbringen mit der Aussicht auf eine demokratisch legitimierte Stadtregierung.

(1)Siehe hierzu: Sozialismus 10/2019 Wolfgang Müller S.  2-6

(2)Es sei daran erinnert, dass Durchschnittsgrößen immer mehr oder weniger große Abweichungen vom Durchschnitt beinhalten.