Sahra Wagenknecht und der Gemeinsinn

19. April 2021  Allgemein

DIE LINKE FREIBURG
DR.PETER BEHNEN

SAHRA WAGENKNECHT UND DIE GESELLSCHAFT FÜR GEMEINSINN UND ZUSAMMENHALT.
Neoliberales Denken beherrscht das Denken und Handeln der Wirtschaft und Politik spätestens seit der Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Kostensenkungen bei Unternehmen und Sparpolitik des Staates, insbesondere bei der Sozialpolitik, sind seitdem Trumpf. Umso wichtiger ist es, dass die Partei „Die Linke“ theoretisch gut begründete Vorschläge zur Bekämpfung des Neoliberalismus vorlegt. Die theoretische Grundlage sollte dabei der Rückgriff auf die Marxsche Theorie als Leitfaden und auch bestimmte Elemente der Keynesschen Theorie sein.
Sahra Wagenknecht hat nun in größeren Texten aus den Jahre 2011, 2016 und 2021 versucht, einen Beitrag zur theoretischen und politischen Positionierung der Linken zu leisten. In ihrem Text „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2011 stellte Sahra Wagenknecht fest, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich eine neue Wirtschaftsordnung wünsche aber keine politische Kraft sehe, der eine systemverändernde Politik zugetraut werde. Sie kam allerdings nicht zu dem Ergebnis, dass es nun auf Basis der Marxsche Theorie oder der Theorie von Keynes darauf ankomme, einen Minimalkonsens zwischen verschiedenen linken Ausrichtungen zu erreichen. Im Gegenteil, sie versuchte „an einer progressiv-bürgerlichen Zivilisierung des Kapitalismus anzusetzen, die zu radikalisieren und ihr so eine neue kreativ sozialistische Eigentumsordnung abzuringen.“ (1) Sie wollte dabei Begriffe wie Leistung und Wettbewerb nicht der bürgerlichen Seite überlassen und wollte anknüpfen an Vertreter des „guten Ordoliberalismus“ wie Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke. Sahra Wagenknecht stand und steht auch heute für eine Eigentumsordnung, in der nicht Großunternehmen und das Finanzkapital im Vordergrund stehen und traf damit mit Vorstellungen und Positionen des Ordoliberalismus zusammen. Gut geführte, erfolgreiche und leistungsfähige Familienunternehmen galten ihr als Gegenentwurf zu renditeorientierten Großunternehmen. Das Problem bei Sahra Wagenknecht war schon damals, dass sie den Übergang in eine neue Eigentumsordnung anhand von klassischen Familienunternehmen präsentierte und insoweit einen Kapitalismus vor Augen hat, der auch beim Ordoliberalismus als Idealbild des Kapitalismus auftritt. Sie nahm nicht zur Kenntnis, dass im Kapitalismus gesetzmäßig eine Trennung von Eigentum und Funktion bis hin zu Aktiengesellschaften und großen Finanzunternehmen stattfindet. Das hatte Marx schon klar erkannt, und darauf hingewiesen, dass kein Idealbild des Kapitalismus zu zeichnen ist, ein Idealbild, dass durch die Struktur des Kapitalismus bedingt an der Oberfläche der Gesellschaft erscheint. Insoweit ist es Aufgabe linker Politik, Vorschläge zu machen, wie die Beschäftigten in den Kapitalgesellschaften die ökonomische Entwicklung teilweise oder ganz bestimmen können.
Mit Sahra Wagenknechts Text „Reichtum ohne Gier“ von 2016 wurde auch von bürgerlicher Seite als politische Botschaft erkannt, dass eine Abwendung von der EU, dem Euro und eine Rückkehr zum Nationalstaat von ihr propagiert wurde. Sie verfolgte weiter das Ideal der kleinen Einheiten und des vollständigen Wettbewerbs. Das Anknüpfen an Vorstellungen des Ordoliberalismus führte sie zur Aufgabe des Marxschen „Kapital“ als Anknüpfungspunkt der theoretischen Analyse. Marx hatte viel Mühe darauf verwendet um zu zeigen, wie durch den Verkauf der Arbeitskraft Mehrwert produziert wird, der Arbeitstag in notwendige und Mehrarbeitszeit unterteilt wird und der produzierte Mehrwert vom Kapitalisten, ob als Familienunternehmer oder durch die Aktiengesellschaft, angeeignet wird. Dieses Ausbeutungsverhältnis, das jedem kapitalistischen Produktionsprozess inhärent ist, wird durch die Struktur des Kapitalismus verschleiert, insbesondere auch durch die Kategorie des Arbeitslohnes. Es entsteht die Illusion, dass die geleistete Arbeit vergütet werde und nicht die Arbeitskraft des Arbeitenden. Auf dieser Bewusstseinsebene schwimmen Kapitalisten, Politiker und auch ein großer Teil der Bevölkerung einschließlich der Lohnabhängigen. Sahra Wagenknecht unterließ es auch in ihrem Text von 2016, sich bei der Erklärung von Bewusstseinsformen auf die Struktur des Kapitalismus einzulassen. Es fällt auf, dass sie auch auf kritische Beiträge von Wissenschaftlern, auch Nichtmarxisten, zum Beispiel Polanyi oder Keynes selten zurückgreift, was ihr den Vorwurf eingebracht hat, einen linken Autismus zu betreiben.
In ihrem jüngsten Text „Die Selbstgerechten“ von 2021 beginnt sie damit, sogenannte Lifestyle-Linke zu benennen, die die soziale Frage nicht mehr im Fokus ihrer Politik hätten, sondern sich mehr auf Themen wie Klima, Emanzipation von Frauen, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten konzentrierten. Zu diesen Lifestyle-Linken zählt Sahra Wagenknecht MitgliederInnen ganz verschiedener Parteien. „In Reinform verkörpern die grünen Parteien dieses Lifestylelinke-Politikangebot., aber auch in den sozialdemokratischen, sozialistischen und anderen linken Parteien ist es in den meisten Ländern zur dominanten Strömung geworden.“ (2) Sahra Wagenknecht bringt im ersten Teil ihres Buches eine Vielzahl von Themen zur Sprache verbunden mit ihrer Sicht auf und Kritik an diesen linken Strömungen. Auch in der Partei „Die Linke“ werden wohl eine Vielzahl ihrer Positionen geteilt werden können, eventuell auch im Parteiprogramm der Partei nachlesbar. Richtig ist natürlich, dass neoliberales Denken und Handeln bis heute die Politik beherrschen und es darauf ankommt, die Lebensverhältnisse der Unterprivilegierten zu verbessern. Das gelingt allerdings nur, wenn verschiedene linke Strömungen zusammengebracht werden und, wie bereits erwähnt, ein linker Minimalkonsens erreicht wird. Dabei hat die Partei „Die Linke“ die wichtige Funktion, vorwärtstreibende Reformen zu unterstützen und immer wieder die Grenzen der Reformpolitik im Kapitalismus aufzuzeigen. Das ist dann auch theoretisch zu begründen. Es ist zu sehen, welche theoretische Position Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Text vorbringt und ob die Marxsche Theorie und die Theorie von Keynes nun einen besonderen Stellenwert als Leitfaden besitzen.
Hier ihr Originalton: „Wer nicht ins 19.Jahrhundert zurück möchte, für den kann es nur einen Weg geben: Wir müssen nicht anders konsumieren, sondern vor allem anders produzieren.“ (3) Dabei geht es ihr aber nicht um die Abwendung von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen im Marxschen Sinne, sondern um neue technische Lösungen. Es geht ihr um eine „echte Leistungsgesellschaft“, eine gute Leistung soll zu Eigentum führen und jedem ein gutes Leben und sozialen Aufstieg ermöglichen. Die Rechtsform der Kapitalgesellschaft als Unternehmensform leiste das nicht und kommt damit zurück zum Ideal des Familien- und Eigentümerunternehmers. „Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß.“ (4) Da hört man bei ihr nichts davon, dass auch diese Unternehmer bzw. Unternehmerinnen Kapitalisten sind und nur durch den Mehrwert der Arbeitenden groß werden. Auch für Unternehmen mit Leistungseigentum komme es auf eine Wirtschaft mit Wettbewerb und einer Entflechtung großer Konzerne an. Zudem gehe es darum, die Übermacht des Finanzsektors zurückzudrängen und eine andere Finanzordnung zu schaffen. Das ist zwar richtig wird aber nur gehen, wenn auch die zu Grunde liegende Produktion des Mehrwerts zurückgedrängt wird. Dazu wäre es notwendig, den Zusammenhang der Mehrwertproduktion, die strukturelle Überakkumulation des industriellen Sektors seit den 70er Jahren und die Aufblähung des Finanzsektors zu erkennen. Damit ist gemeint, dass es seit den 70er Jahren im Kapitalismus nicht mehr gelingt, den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate durch ein schnelleres Wachstum der Profitmasse zu kompensieren. Nicht mehr jedes industrielle Kapital kann sich rentierlich verwerten und es werden viele Kapitalisten auf den Weg der Abenteurer an den Finanzmärkten gedrängt. Sie versuchen ihrem Untergang durch die Steigerung der Kurse an den Börsen und Immobilienmärkten und Spekulationsgewinne zu entgehen. Die entfesselte Marktgesellschaft wird allerdings nicht allein durch die Propagierung von Gemeinsinn und Zusammenhalt zu stoppen sein, so wichtig das auch ist, sondern nur durch die Vorstellung von nachvollziehbaren Schritten zu einer wirtschaftsdemokratischen Ordnung. Ein fortschrittlicher Gegenentwurf muss darin bestehen, nicht weiter auf den Wettbewerbskapitalismus zu setzen, sondern auf eine sozialistische Marktwirtschaft und einen demokratischen Sozialismus. Da wird die Partei „Die Linke“ einen wichtigen Beitrag im Rahmen einer linken Zusammenarbeit leisten müssen. Mit einer Verunglimpfung anderer linker Ansätze und Bewegungen ist keinem gedient, sondern ist politisch kontraproduktiv. Das heißt aber auch, dass im neuen Text von Sahra Wagenknecht eine Vielzahl richtiger Einsichten und Positionen formuliert werden, die sich die Partei „Die Linke“ zu eigen machen müsste oder schon zu eigen gemacht hat, selbst wenn sie bei Wagenknecht unpräzise und zum Teil missverständlich vorgetragen werden.
(1)Joachim Bischoff und Christoph Lieber: Zeitschrift Sozialismus 7/8 von 2011 S.40
(2) Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten, Frankfurt am Main 2021, S.25
(3) a.a.O. S.290
(4) a.a.O. S.293