Die Zukunft des Sozialismus?

10. Oktober 2021  Allgemein

DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

THOMAS PIKETTY UND DER SOZIALISMUS DER ZUKUNFT.
In dem Text „Der Sozialismus der Zukunft“ werden noch einmal Kolumnen von Thomas Piketty herausgebracht, die zwischen 2016-2021 in der Zeitung Le Monde veröffentlicht worden sind. Im Vorwort des Textes stellt er seine aktuelle theoretische und politische Position dar. Es ist zu sehen, wie aus seiner Sicht ein Sozialismus der Zukunft aussehen könnte.
Thomas Piketty beginnt mit der Feststellung, dass sich im Gegensatz zu den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts sein Verhältnis zum Kapitalismus geändert habe. „Doch 30 Jahre später, im Jahr 2020, liegt mir der Hyperkapitalismus sehr fern, und ich bin der Überzeugung, dass wir wieder über die Überwindung des Kapitalismus nachdenken müssen…“ (1) Er plädiert nun für „einen neuen, partizipativen und dezentralisierten, föderalen und demokratischen, ökologischen, diversen und feministischen Sozialismus…“ (2) Thomas Piketty will eine klar formulierte Alternative zu Kapitalismus vorlegen. Dabei lautet seine Prämisse: „…Ungleichheit ist ideologischer und politischer Natur, nicht ökonomischer oder technischer Natur.“ (3) Deswegen geht er davon aus, dass die Umverteilung von Einkommen und Vermögen seit dem frühen 20.Jahrhundert zwar begonnen habe, aber die Konzentration von Eigentum bei Wenigen immer noch auf einem hohen Niveau verblieben sei. Man habe zwar inzwischen eine größere Gleichheit erreicht als in früheren Gesellschaften, seit den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sei aber eine Stagnation des Sozialstaats eingetreten. Deswegen seine Feststellung: „Bildungsgerechtigkeit und Sozialstaat reichen nicht aus. Um wirkliche Gleichheit zu erreichen, sind alle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu überdenken. Dafür muss natürlich auch die Macht in den Unternehmen verteilt werden.“ (4) Thomas Piketty orientiert sich dabei am Konzept der betrieblichen Mitbestimmung der Bundesrepublik, stellt aber gleichzeitig fest, dass der Widerstand der Aktionäre eine größere Verbreitung des Modells verhindert habe. Ihm schwebt vor, dass die Arbeitnehmervertreter in allen Unternehmen 50 Prozent der Stimmen haben sollten. Je größer das Unternehmen werde, desto größer müssten auch die kollektiven Entscheidungen sein. Durch eine Änderung der Rechtsverhältnisse in den Unternehmen sei aber keine wirkliche „Zirkulation von Macht“ zu erreichen. „Um eine wirkliche Zirkulation von Macht zu erreichen, müssen auch das Steuer- und Erbschaftsrecht angegangen werden, damit das Eigentum selbst in Bewegung kommt.“ (5)
Thomas Piketty kommt zu einer verblüffenden „Lösung.“ Er spricht sich für eine Mindesterbschaft für alle Bürger aus, die bei etwa 120000 Euro liegen könnte und ab dem 25.Lebensjahr auszuzahlen wäre. Diese Erbschaft für alle könnte durch eine progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer finanziert werden. Da aber auf diese Weise nicht alle Staatsausgaben gedeckt seien, seien bei einem idealen Steuersystem 50 Prozent des Nationaleinkommens als Steuern zu erheben. Da jedoch die Erbschaft für alle noch nicht zur wirklichen Gleichheit führe, sei sie auch nur als wichtige Komponente einer gerechten Gesellschaft anzusehen. „Besitzt man nun ein kleines Vermögen, hat man mehr Optionen. Man kann sich erlauben, ein paar Angebote abzulehnen, bis ein gutes dabei ist. Man kann erwägen, ein Unternehmen zu gründen oder eine Wohnung zu kaufen, um die monatliche Miete zu sparen.“ (6) Insgesamt kommt Thomas Piketty zu dem Ergebnis: „Der von mir erhoffte partizipative Sozialismus beruht auf mehreren Säulen: Bildungsgleichheit und Sozialstaat; permanente Zirkulation von Macht und Eigentum; Sozialföderalismus und nachhaltige und gerechte Globalisierung.“ (7) Er legt Wert darauf zu betonen, dass der von ihm vertretene „partizipative Sozialismus nicht von oben herab diktiert wird. “ (8) Es komme ihm darauf an, einen Anstoß zu einer allgemeinen Diskussion zu geben.
Schon vor dem Text „Der Sozialismus der Zukunft“ hatte Thomas Piketty Furore gemacht. Sein Buch „Kapitalismus im 21.Jahrhundert“ wurde ein Bestseller ebenso wie der Text „Kapital und Ideologie.“ Manche Medien bezeichneten ihn sogar als den Karl Marx des 21.Jahehunderts. Es ist also zu sehen, ob sein Plädoyer für einen partizipativen Sozialismus theoretisch mit der Marxschen Theorie in Verbindung gebracht werden kann. Ihm ist zuzustimmen, dass es an der Zeit ist, dass die Überwindung des Kapitalismus angegangen werden muss und gegen soziale Ungleichheit vorzugehen ist. Aus Sicht der Marxschen Theorie ist allerdings seine Behauptung in Frage zu stellen, dass Ungleichheit auf polit-ideologische Maßnahmen und nicht auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sei. Um Ungleichheit zu erklären, muss auf Basis der Marxschen Theorie auf die Produktion des Mehrwerts, die organische Zusammensetzung des Kapitals und die Entwicklung der gesellschaftlichen Profitrate und Profitmasse zurückgegangen werden. Dann kann die Ablösung der beschleunigten Akkumulation des Kapitals durch die chronische Überakkumulation in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erklärt werden. (9) Es kann dargestellt werden, dass inzwischen das Produktionspotential und die Einkommensverhältnisse so weit auseinanderklaffen, dass auch in Aufschwungsphasen der Konjunktur ein Überfluss an Kapital existiert, der nicht per se Anlage findet. Deswegen suchten sogenannte Investoren Anlagemöglichkeiten im Finanzsektor, was mit der Herausbildung von Hedgefonds, Equity-Fonds, Pensionsfonds etc. verbunden war. Gesellschaftliche Ungleichheit hat also eine ökonomische Grundlage, erst auf dieser Basis kann soziale Ungleichheit durch politische Maßnahmen entweder verstärkt oder abgemildert werden. Diesen Zusammenhang arbeitet Thomas Piketty nicht heraus. Im Gegensatz zu ihm finden sich bei J.M. Keynes deutliche Parallelen zur Marxschen Theorie. Auch Keynes stellt für den reifen Kapitalismus eine Überreichlichkeit an Kapital fest, das in Spekulation des Finanzsektors fließt und auf lange Sicht den Kapitalismus untergräbt. Aber auch er, ebenso wie Piketty, begreifen die Verteilungsverhältnisse nicht als Kehrseite der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und verbleiben bei ihren gesellschaftlichen Vorschlägen auf dem Boden des Kapitalismus. Sie haben allerdings beide eine Vorstellung davon, dass tiefergehende Eingriffe in das Finanzwesen (Keynes) und politische Eingriffe in das Erb- und Steuerrecht (Piketty) stattfinden müssen. Piketty kommt auch dazu, dass Eingriffe in die Struktur der Unternehmen notwendig sind, bleibt aber bei seinen Vorschlägen bei der betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer der Bundesrepublik stehen. Sein Vorschlag einer Erbschaft für alle begreift er aber selbst als beschränkt in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen. Einen Sozialismus, der grundlegend die kapitalistischen Produktionsverhältnisse angreift, wird von ihm nicht als zukünftiger Weg erkannt. Er macht allerdings Vorschläge, zum Beispiel für Reformen im Bildungsbereich, Sozialstaat, für die Gleichberechtigung von Frauen und eine gerechte Globalisierung, die sehr wohl als wichtige Schritte der gesellschaftlichen Veränderung zu begreifen sind. Piketty ist allerdings nicht klar, dass die Verwirklichung dieser Schritte an Grenzen stößt, die die Gesetze der privaten Kapitalverwertung des Kapitalismus vorgeben. Bei einer alternativen Entwicklung muss ein Weg zu einer demokratisch gesteuerten Ökonomie, einem regulierten Finanzsektor und Eingriffen in die Eigentumsverhältnisse der Produktion gefunden werden. Genossenschaftliches Eigentum in der Produktion sollte zur zentralen Eigentumsform werden. In einem Marktsozialismus sind das gesellschaftliche/genossenschaftliche Eigentum, die Dispositionsgewalt über unternehmerische Investitionen und die Steuerung makroökonomischer Größen so aufeinander abzustimmen, dass eine wirtschaftsdemokratische Ordnung entstehen kann. Das ist allerdings ein Sozialismus der Zukunft, der von Thomas Piketty aufgrund seiner mangelhaften Kapitalismusanalyse nicht vorgestellt werden kann. Trotzdem leistet er einen wichtigen Beitrag dazu, grundsätzlich über den Kapitalismus neu nachzudenken. Insoweit ist er einen wesentlichen Schritt weiter als die Diskussion, die sich aktuell zwischen den etablierten bürgerlichen Parteien abspielt.
(1)Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft, München 2021, S.10
(2) a.a.O. S.1
(3) a.a.O. S.12
(4) a.a.O. S.17
(5) a.a.O. S.20
(6) a.a.O. S.23
(7) a.a.O. S.28
(8) a.a.O. S.32
(9) Siehe u.a. Stephan Krüger: Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation, Hamburg 2010.