Sondierung ohne Kenntnis kapitalistischer Strukturzusammenhänge

31. Oktober 2021  Allgemein

DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
SONDIERUNG OHNE KENNTNIS KAPITALISTISCHER STRUKTURZUSAMMENHÄNGE.
Die SPD, die Grünen und die FDP haben sich auf ein Sondierungspapier geeinigt. Mit dem zwölfseitigen Papier soll es nun in die Koalitionsverhandlungen gehen. Das Papier liest sich wie ein Wunschzettel, bei dem die beteiligten Parteien versucht haben, mehr oder weniger ihre Präferenzen durchzusetzen. Der Schwerpunkte des Papiers sind die Themen Klimaschutz, Digitalisierung, Verkehr, Arbeit und Soziales, Alterssicherung, Außenpolitik und Finanzen. Der SPD ist es gelungen, dass die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro akzeptiert wurde, dafür hat die FDP durchgesetzt, dass die Mini- und Midi Jobs flexibilisiert werden. Auch wird im Sinne der FDP die Vermögenssteuer nicht erhoben, ebenso wie es eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Superreiche nicht geben wird. Die Rente mit 67 wird bleiben und ebenso das Rentenniveau bei 48 Prozent. Der Einstieg in die Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung scheint beschlossenen Sache zu sein. Das Hartz 4 soll in Zukunft Bürgergeld heißen, ob das nur eine andere Bezeichnung für Hartz 4 ist oder auch mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Betroffenen verbunden ist bleibt abzuwarten. Dem Wunsch der FDP entsprechend, sollen die Empfänger und Empfängerinnen des Bürgergeldes mehr Zuverdienstmöglichkeiten erhalten, das spricht nicht für eine Höhe des Bürgergeldes, das zum Leben reicht. Beim Thema Klimaschutz ist die Lage kompliziert. Aus der Forderung der Grünen, ein Tempolimit auf Autobahnen durchzuführen wird nichts werden. Dafür kommt das vage Versprechen, einen beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung zu erreichen und durch einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien den steigenden Strom- und Energiebedarf zu decken. Durch die Verpflichtung bei gewerblichen und Förderung bei privaten Neubauten Solaranlagen auf die Dächer zu setzen, könne auch ein Konjunkturprogramm für Mittelstand und Handwerk abgeleitet werden. Beim Thema Pflege und Gesundheit wird eine Offensive für mehr Personal angekündigt, die Finanzierung durch eine Bürgerversicherung ist allerdings vom Tisch. Kompromisse gibt es beim Thema Wohnen, 400000 neue Wohnungen sollen pro Jahr entstehen, 100000 davon öffentlich gefördert. Von einer Deckelung der Mieten ist allerdings nicht die Rede. Der zukünftige Bundeskanzler Scholz erklärte zum Schluss, durch die neue Regierung werde das größte Modernisierungsprojekt seit über 100 Jahren eingeleitet.
Scholz muss aber zugeben, dass der der konkrete Finanzbedarf nicht Gegenstand der Gespräche gewesen sei. Er und auch Robert Habeck konnten nicht erklären, wie die gewaltigen Investitionen bei dem Verzicht auf Steuererhebung bzw. Steuererhöhungen bei Vermögen und hohen Einkommen und Beibehaltung der Schuldenbremse finanziert werden sollen. Es ist zu sehen, inwieweit die Vorschläge der Sondiererinnen und Sondierer, die quasi im ökonomischen Vakuum gemacht wurden, mit kurz- und langfristigen Tendenzen des Kapitalismus kollidieren werden.
Das DIW Berlin, das Ifo-Institut München, das IFW Kiel, das IWH Halle und das RWI Essen haben gerade eine Gemeinschaftsdiagnose veröffentlicht, in der sie den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts auf 2,4% in diesem Jahr nach unten korrigierten und feststellten, dass die wirtschaftliche Lage weiterhin durch die Corona-Krise belastet sei. Wichtig seien auch umfassende Lieferengpässe für die Industrie. Das Wirtschaftswachstum wird laut der Prognose der Institute nach Auslaufen der Pandemie im Jahre 2022 zuerst stabilisiert und dann wiederum auf 1,9% zurückfallen. „Schon vor der Corona-Pandemie haben wir mehrere Wachstumszyklen- unterbrochen von rezessiven Phasen-mit niedrigen und im Trend fallenden Wachstumsraten beobachtet.“ (1) Damit wird der Rückfall der Akkumulationsrate unter 2%, also in die sogenannte säkulare Stagnation deutlich. Weitere Zuspitzungen der Verteilungskämpfe sind unausweichlich, „die wegen der unverzichtbaren Aufwendungen für die ökologische Transformation (Kampf gegen Klimawandel) zu weiteren gesellschaftlichen Konflikten führen.“ (2) Es ist also nicht auszuschließen, dass die Bundesrepublik und anderen kapitalistischen Länder sich in politischen Streitigkeiten und gesellschaftlichem Stillstand verlieren werden, trotz Zweckoptimismus und Fortschrittsrhetorik der Sondiererinnen und Sondierer.
Entscheidend wird jedoch sein, welchen Einfluss die Entwicklung der Netzwerkökonomie mit der Digitalisierung auf die gesellschaftliche Profitrate haben wird. „Im Gesamtergebnis steigert das Rationalisierungsparadigma der Netzwerkökonomie durch Einsparung der lebendigen Arbeit die allgemeine Mehrwertrate.“ (3) Es gibt also Gegenkräfte gegen den Fall der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate. Aber die „erweiterten Automatisierungsprozesse führten dort, wo sie genutzt werden und nach Maßgabe des Umfangs ihrer Anwendung…zu einer steigenden Kapitalintensität der Arbeitsplätze und dem entsprechend wieder zu einer Verstärkung des tendenziellen Falls der nationalen Profitraten.“ (4) Es gelang also nicht die strukturelle Überakkumulation des Kapitals, die auf Basis der Marxschen Theorie ableitbar ist, zu überwinden. (5) Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Umverteilung zu Gunsten der Profite nur zu einer Stabilisierung der Profitraten auf niedrigem Niveau geführt hat. Insoweit sind wir an einem gesellschaftlichen Kontenpunkt angelangt. „Neue Produktivkräfte sind vorhanden und zeichnen sich ab, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hemmen jedoch sowohl ökonomisch durch niedrige Profitraten als auch gesellschaftlich…die Etablierung einer neuen, höheren Betriebsweise.“ (6) Es zeigt sich eine Systemgrenze, die nur durch eine Relativierung der privaten Profitproduktion, eine massive Regulierung des Finanzsektors und die Entwicklung einer Wirtschaftsdemokratie überwunden werden kann.
Diese Strukturzusammenhänge kennen weder die Sondiererinnen und Sondierer noch die zukünftigen Koalitionäre. Ihr Weg wird zu massiven gesellschaftlichen Konflikten und vermutlich zum gesellschaftlichen Stillstand führen trotz ihrer Fortschrittseuphorie. Nur eine grundlegende Änderung der Produktionsverhältnisse, als Ergebnis einer schrittweisen fortschrittlichen Reformpolitik und einer entsprechenden Änderung der politischen Kräfteverhältnisse, wird zu einer solidarischen Gesellschaft, in der soziale Gerechtigkeit, eine durchgreifenden Klimapolitik und eine demokratische Erneuerung verwirklicht werden, führen.
(1)Akkumulation nach der Pandemie: Aus Sozialismus aktuell vom 14.10.21
(2) a.a.O.
(3) Siehe Zeitschrift Sozialismus, Heft 7/8/2021, S.62
(4) a.a.O. S.62
(5) Siehe hierzu u.a. Stephan Krüger Wirtschaftspolitik und Sozialismus, Hamburg 2016 oder www.die-linke-freiburg.de/politische-oekonomie-heute.
(6) Siehe Zeitschrift Sozialismus Heft 7/8/2021, S.63