Die russische Aggressionspolitik und die Friedensperspektive

28. Februar 2023  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

 

DIE RUSSISCHE AGGRESSIONSPOLITIK, POLITISCHE REAKTIONEN UND DIE PERSPEKTIVEN FÜR EINE FRIEDENSPOLITIK.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine ist nur zu verstehen, wenn die Strukturen des Kapitalismus und die historischen Knotenpunkte benannt werden, wodurch erst bestimmte Voraussetzungen der Aggressionspolitik geschaffen wurden. Da das oberste Ziel des Kapitalismus darin besteht, privates Kapital möglichst gewinnbringend zu verwerten, gehört es seit jeher zu zum Strukturmerkmal des Kapitalismus, dass Hindernisse auf dem Weg zur optimalen Verwertung privaten Kapitals national durch Beschränkung von Arbeitnehmerrechten bis hin zum Faschismus und international durch gewaltsame imperiale Politik beiseite geräumt werden. Eine außerökonomische Gewalt ist in der Regel dann an der Tagesordnung oder zu mindestens denkbar, wenn der Kapitalismus von der prosperierenden in eine krisenhafte Entwicklung übergeht.  Vor diesem Hintergrund muss auch die nationale und internationale Politik seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ab 1990 gesehen werden.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion und ihres Staatensystems ergaben sich verschiedene wichtige historische Knotenpunkte, die eng mit der Politik der NATO-Staaten und der Hegemonie der USA verknüpft sind.

1.Der 2+4-Vertrag von 1990

Er stellte die Einheit Deutschlands wieder her. Der Vertrag zwischen den vier Alliierten und den beiden deutschen Staaten kam nur zustande, weil keine Nato-Osterweiterung vorgesehen war.

  1. Das Budapester Memorandum von 1994

Die vier Alliierten verpflichteten sich, die Souveränität von Belarus, Kasachstan und der Ukraine zu achten, die dafür auf Atomwaffen, an die sie nach dem Ende der Sowjetunion gekommen waren, verzichteten.

  1. Die Nato-Russland Grundakte 1997

Hier ging es um eine enge Kooperation zwischen der Nato und Russland bei der Abrüstung mit konventionellen und atomaren Waffen. Die Nato-Staaten versprachen, sich bei der Stationierung von Truppen und Waffensystemen in Osteuropa zurückzuhalten. Fakt war jedoch bald, dass die Nato unter der Führung der USA 14 Staaten in Osteuropa und Südosteuropa in die Organisation aufnahm.

  1. Der Nato-Gipfel in Bukarest 2008

Auf der Tagesordnung stand u.a. der Beitritt der Ukraine und Georgiens zur Nato. Die USA versuchten den Beitritt durchzusetzen, Frankreich und die Bundesrepublik lehnten das ab, weil von Russland darin eine existentielle Bedrohung gesehen wurde.

5.Das Minsker Abkommen von 2015

Es muss als wichtiger Schlüssel zum Verständnis der russischen Aggression gegenüber der Ukraine angesehen werden. Da es vorher schon zur Aggression und Vereinnahmung der Krim durch Russland und zum Bürgerkrieg in der Ostukraine gekommen war, sollte das Abkommen zum Waffenstillstand und zu Verhandlungen zwischen den prorussischen Teilen des Donbass und der ukrainischen Regierung führen. Das Ziel war, auf russischen Druck, eine Autonomie des Donbass zu erreichen. Das Abkommen kam zustande zwischen den Regierungen Frankreichs, der Bundesrepublik, und den Präsidenten der Ukraine und Russlands und sah vor, den Status der Provinzen in der Ostukraine durch regionale Wahlen zu klären auf der Grundlage der ukrainischen Gesetzgebung. Das Abkommen wurde allerdings weder von der ukrainischen Seite noch von der russischen Seite und prorussischen Seite des Donbass wirklich umgesetzt. Im Gegenteil, die Blockade des Abkommens führte zu einem 7-jährigen Stellungskrieg im Donbass mit vielen Toten. Es folgte 2022 die endgültige Aufkündigung des Abkommens durch Putin und der Beginn des russischen Aggressionskrieges gegen die Ukraine.

Der Krieg hat somit historische Voraussetzungen, an denen die Nato-Staaten unter der Hegemonie der USA nicht unbeteiligt sind. Parallel dazu vollzogen sich nach dem Zerfall der Sowjetunion gewaltige gesellschaftliche Umbrüche in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die für den Aggressionskrieg Russlands entscheidend sind.

Die gesellschaftlichen Umbrüche (1)

 Im Jahre 2022 waren die Machtverhältnisse in Russland, die sie nach 1990 entwickelten, nicht mehr im Blick vieler Beobachterinnen und Beobachter. Man fixierte sich auf die Person Putins und seiner meist männlichen Berater. Mit dem Amtsantritt Putins im Jahre 2000 wurde eine Trennlinie gezogen, wobei die Zeit vorher als Zeit des demokratischen Aufbruchs in Russland gesehen wurde. Dadurch wurde allerdings unterschlagen, dass die Machtverhältnisse in Russland schon sehr früh nach dem Untergang der Sowjetunion durch eine enge Verbindung von Staat und Oligarchen geprägt waren. Durch die neoliberalen „Reformer“ der Jelzin-Administration vollzog sich mittels einer Schocktherapie der Übergang in den Kapitalismus, das heißt, viele gesellschaftlichen Bereiche wurden ungeschützt den Marktgesetzen überlassen. Gegen diese Politik Jelzins entstand Widerstand, der aber mit Gewalt bekämpft wurde.  Im Jahre 1993 ließ Jelzin das Parlament beschießen und konnte danach eine autoritäre präsidentielle Verfassung durchsetzen. Damit war das Ende des Demokratisierungsprozesses im Lande eingeleitet. Ab 1995 erfolgte gegen den Widerstand des Parlaments eine schnelle Privatisierung von staatlichen Unternehmen, vor allem von Unternehmen aus dem Öl- und Gassektor. Einige Kapitalisten, sogenannte Oligarchen, erhielten besonderen Einfluss auf die Staatstätigkeit. Wegen des Privatisierungsprozesses verarmten auf der anderen Seite größere Teile der russischen Bevölkerung. Die Schocktherapie hin zum Kapitalismus erzeugte einen gewaltigen gesellschaftlichen Niedergang, u.a. auch einen Prozess der Deindustrialisierung. Lediglich im Rohstoffsektor sowie im Eisen, Stahl und Chemiesektor war eine internationale Konkurrenzfähigkeit gegeben. Das Ergebnis war die Konzentration der russischen Wirtschaft auf die Ressourcenextraktion für den Export an kapitalistische Hauptländer.

Seit der Übernahme des Amtes des Ministerpräsidenten durch Wladimir Putin ab dem Jahre 2000 wurden die politischen Machtverhältnisse in Russland neu geordnet. Man kann diese Ordnung als oligarchisch-etatistische Ordnung bezeichnen. Von den unregulierten neoliberalen Verhältnissen Jelzins wurde Abstand genommen und es erfolgte eine Stärkung staatlicher Organe. Führende Personen der Oligarchie mussten sich umorientieren mit dem Ziel der Modernisierung der Ökonomie. Politisch Oppositionelle erfuhren eine noch stärkere Unterdrückung, national-konservative und auf den Binnenmarkt orientierte Teile der Oligarchie erlangten die Oberhand. Mit dem Amtsantritt Putins wurde ein neues Verhältnis von Staat und Oligarchie geschaffen. Die neue russische Bourgeoisie versuchte ihre Position abzusichern, vollzog eine enge Kooperation mit Putin und seinen Anhängern und trägt auch seine aggressive Politik nach innen und nach außen mit.

Die Rolle der Oligarchie in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion kann auch am Beispiel der Ukraine nachgezeichnet werden. Bei seinem Amtsantritt im Jahre 2019 verspracht der neu gewählte Präsident Wolodimir Selenskij das Land zu reformieren. Doch noch in der Ausgabe vom 29.3.21 stellt die Süddeutsche Zeitung fest, dass die ukrainischen Oligarchen dem Zugriff der Justiz nach wie vor entzogen sind. (2) Zu den Oligarchen zählen zum Beispiel Rinat Achmetow, Ihor Kolomoiskij und Ex-Präsident Petro Poroschenko. Sie kontrollierten noch 2021 große Teile der Wirtschaft und über eigene Sender 70 Prozent des Fernsehmarktes und verhinderten seit Jahrzehnten fast alle wichtigen Reformen im Land. Versuche, das System zu ändern, scheiterten vor allem durch Alliierte er Oligarchen in Behörden, Parlament und Regierung. Bei einem Besuch des ukrainischen Präsidenten am 9.2.23 in Brüssel verwies er auf das sogenannte „Anti-Oligarchen-Gesetz“, das die von der EU verlangten Reformen im Lande gewährleiste. (3) Das Gesetz zeigt erste Wirkungen, indem Achmetow und Poroschenko Kontrollen über ihre Mediengruppen verloren. Der Reichtum der Oligarchen schwindet jedoch weniger durch dieses Gesetz als durch die Zerstörungen des russischen Angriffskrieges. Trotzdem stellt das „Center for Economic Strategy“ (CES) in Kiew fest, dass noch zu wenig getan worden sei, um den Einfluss der Oligarchen zu beseitigen.

Internationale Reaktionen auf den Angriffskrieg

Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass der Westen gegenüber Russland Exportkontrollen erlassen hat, und es wird versucht, das Land von westlichen Technologien abzuschneiden. Russland soll von wichtigen Einnahmequellen abgetrennt werden. Als Gegenreaktion hat Russland die Lieferung von Erdgas eingeschränkt, was die Gas-und Elektrizitätspreise sowie die Inflationsrate im Westen auf ein Rekordniveau gebracht hat. Der Westen unterstützt die Ukraine mit enormen Militärressourcen und verhindert mithilfe des Finanzsystems den Zusammenbruch des Landes. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom Februar 2023 warben die versammelten westlichen Politikerinnen und Politiker, Militärs und Lobbyisten für das Ziel, die Ukraine solange wie nötig militärisch zu unterstützen. Die Sicherheitskonferenz verpasste damit die Chance, sich als ein internationales Forum für Sicherheitsfragen und politische Verständigung zu erweisen. (4) Dagegen ist in vielen Teilen der Welt die Rollenverteilung von Opfer und Täter sowie Gut und Böse nicht so eindeutig wie im Westen. Wang Yi, der höchste außenpolitische Vertreter der Volksrepublik Chinas, sah in dem Ukraine-Krieg eher eine Konfrontation der Nato unter der Hegemonie der USA einerseits und Russlands andererseits. Er erhielt dabei eine breite Zustimmung von den Ländern des globalen Südens. Wang Yi kündigte eine Initiative zur Beendigung des Krieges an, ebenso wie jüngst der brasilianische Präsident Lula da Silva die Gründung eines „Friedensclubs“ vorgeschlagen hatte. In dem Friedenspapier Chinas wird eindringlich vor einer Eskalation gewarnt, eine territoriale Integrität aller Länder gefordert aber auch die Forderung formuliert, dass die Sicherheitsinteressen aller Länder ernst zunehmen seien. Eine ausdrückliche Verurteilung Russlands fehlt allerdings.

Die Perspektiven für eine Friedenspolitik

Die Gefahr, dass es zum Einsatz von taktischen Atomwaffen in der Ukraine kommt, haben sowohl Putin als auch Biden jüngst deutlich gemacht. Die Eskalationsschraube dreht sich immer weiter. Das zeigt auch die Flucht das ukrainischen Präsidenten Selenskyj nach vorn mit seiner Forderung, die Ukraine schnell in die EU und die Nato aufzunehmen und mit seiner Forderung zur Lieferung von Panzern und Kampfjets. Es drängt sich deswegen eine entgegengesetzte Lösung zur Beendigung des Krieges immer mehr auf, es geht also um Deeskalation und Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Einen bemerkenswerten Vorschlag dazu hat jüngst Hans-Peter Krüger in der Zeitschrift Sozialismus gemacht. (5)

  1. Krüger stellt die Frage, wieso der Westen in dieser Lage immer noch auf die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine orientiert? Es sei allgemein bekannt, dass das für Russland seit 2008 (Bukarester Nato-Tagung) bis heute der entscheidende Kriegsgrund sei. Klar müsse sein, dass die Ukraine Sicherheitsgarantien benötige. Es reiche nicht mehr aus, dass nur Frankreich und die Bundesrepublik wie im Minsker Abkommen (2015) für die Vermittlung zwischen den Kriegsparteien zuständig seien, sondern es gehe heute darum, Initiativen für ein Waffenstillstandsabkommen durch Nato-Länder selbst und von Indien, China und Ländern des globalen Südens zu erreichen. Multilateralismus sei heute das Stichwort und nicht mehr die Hegemonie einer einzigen Weltmacht.
  2. Die Ukraine müsse ihren Weg in die EU fortsetzen können. Die Hilfen der EU seien aber strikt an die Bedingung zu knüpfen, dass dort konsequent eine rechtstaatlich-gewaltenteilige politische Demokratie gegen die korrupten Netzwerke der Oligarchie durchgesetzt werde.
  3. In einem Waffenstillstandsabkommen müsse der Konflikt um gegenseitige Gebietsansprüche geregelt werden. Das könnte in einer Übergangsdauer von ca.15 Jahren erfolgen, die in mehrere Etappen zu untergliedern sei. Es gehe dabei um die Rückzüge der Kampftruppen, die Entminungen, die Grundversorgungen und den Wiederaufbau von Wohnungen und Infrastruktur. Zur Erfüllung dieser Aufgaben würden wahrscheinlich UN-Blauhelme und OSZE-BeobachterInnen benötigt. Die gebietsansässige Bevölkerung habe sich in freier Öffentlichkeit an Diskussionen und Wahlen zu beteiligen unter Aufsicht unabhängiger Dritter. So werde der Weg frei zu einem Friedensvertrag, in dem auch die Sezessions-und Reparationsfrage abschließend zu klären sei.
  4. Die ersten drei Schritte müssten durch Russland und die Ukraine eingehalten werden, wodurch auch ein Ende der Sanktionspolitik ermöglicht werde. Das Ziel sei, wieder zu normalen ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu kommen, was auch den Reformkräften in Russland und der Ukraine helfen könnte, den Imperialismus der Oligarchien zurückzudrängen. Krüger sagt auch an die Adresse des Westens gerichtet, dass er es seit 30 Jahren unter der Hegemonie der USA versäumt habe, den Nachfolgestaaten der Sowjetunion eine wirkliche Alternative und echte soziale und friedliche Perspektive anzubieten.

(1) Siehe hierzu: Felix Jaitner, Russlands Kapitalismus, VSA-Verlag, Hamburg 2023.

(2) Siehe hierzu: Florian Hassel, Die Macht der Oligarchen ist ungebrochen, SZ vom 29.3.21

(3) Siehe hierzu: Eugen Theise, DW vom 25.2.23

(4) Siehe hierzu: Otto König/ Richard Detje, Militärische Stärke statt Dialog, Sozialismus aktuell vom 24.2.23

(5) Siehe hierzu: Hans-Peter Krüger, Supplement der Zeitschrift Sozialismus in Heft 12/2022