Das Ende der griechischen Tragödie?

01. August 2018  Allgemein

Dr.Peter Behnen

Das dritte Hilfsprogramm der europäischen Gläubiger für Griechenland endet am 20.8.2018. Es umfasst 86 Mrd. Euro, von denen bisher 46,9 Mrd. Euro ausgezahlt wurden. Die geringeren Rückzahlungspflichten waren eingeräumt worden und dazu gedacht, dass sich Griechenland mit den internationalen Banken und Finanzmärkten in Zukunft leichter arrangieren kann. Allerdings gilt weiter die Einschränkung der EU, dass die Krise weitergehen könnte, sollte Griechenland die vorgeschriebenen „Reformen“ zurücknehmen oder Abstriche bei der Rückzahlung der Kredite machen. Dann müsse Griechenland einem neuen Programm unterworfen werden.
Wie die Entwicklung in Griechenland weitergeht, hängt entscheidend davon ab, wie sich die Zuwachsraten der realen Wirtschaft entwickeln. Diese wiederum werden sich nicht positiv entwickeln, wenn die EU-Politik schwerpunktmäßig darauf setzt, die öffentlichen Ausgaben zu reduzieren und die staatlichen Einnahmen zu erhöhen. Diese Konsolidierungspolitik hat negative Rückwirkungen auf die Wirtschaftskreisläufe. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass eine Austeritätspolitik die Wirtschaftsbasis Griechenlands nicht stärkt. Infolge der Austeritätspolitik hat Griechenlands Wirtschaft sechs Jahre Schrumpfung und vier Jahre leichtes Wachstum hinter sich. Das hatte erhebliche Folgen für die griechische Bevölkerung. Neben starken Einkommenseinbußen wurde für alle spürbar, dass zum Beispiel in Krankenhäusern und anderen öffentlichen Einrichtungen heftig gespart wurde. Das Wirtschaftswachstum steigt jetzt nur leicht, nachdem Griechenland ein Viertel seiner Wirtschaftskraft verloren hat. Die Arbeitslosenquote liegt bei 20 Prozent, bei den 15-24Jährigen sogar bei 42 Prozent. Über eine halbe Million gut ausgebildeter Menschen hat das Land verlassen, u.a. in Richtung der Bundesrepublik. Es wird Jahrzehnte dauern, bis Griechenland wieder das Vorkrisenniveau erreichen wird.

All das bewerten die Gläubiger Griechenlands als Erfolg, insbesondere vor allem deswegen, weil Griechenland an die Finanzmärkte zurückkehren kann und bei der Bedienung der Schulden ein gutes Stück vorangekommen ist. Auf der anderen Seite wird der Regierung Tsipras von Seiten einiger linker KritikerInnen vorgeworfen, nicht frühzeitig die Systemfrage gestellt zu haben und aus der Eurozone bzw.EU ausgetreten zu sein. Ein Beispiel für diese Position lieferte jüngst Steffen Stierle von Attac. „Faktisch ändert sich also mit dem offiziellen Ende der Rettungspolitik wenig…Innerhalb der Währungsunion gibt es für Griechenland keine Möglichkeit, diesen Verarmungs- und Unterwerfungskurs in einem überschaubaren Zeitraum zu beenden und zur Demokratie zurückzukehren. So unglücklich die Rolle eines Yannis Varoufakis heute ist: Er hatte Recht, als er in seiner Zeit als Finanzminister auf einen Alternativplan pochte, der das Land aus der Eurozone führt.“ (2) Stierles Position geht u.a. auf das Frühjahr 2013 zurück, die Oskar Lafontaine schon damals zusammen mit Sahra Wagenknecht vorgetragen haben und im Jahr 2015 durch den sogenannten Lexit-Aufruf verbreitet wurde. Der Aufruf wurde von einigen Mitgliedern von Attac und auch der Linkspartei unterschrieben, in dem eine Alternative zum Euro gesucht wird. Die Diskussion erfuhr eine Zuspitzung von Janine Wissler und Nicole Gohlke im „Neuen Deutschland“ im Jahre 2015. Die grundlegende Schwäche der Lexit- Position ist bis heute die Verkürzung der europäischen Probleme auf die Währungsfrage als Schlüsselfrage. Es ist eine Illusion zu glauben, ohne umfassende Ausgleichsprozesse auf ökonomischen, politischen und sozialen Gebieten in der EU könnten auch für Griechenland die Probleme gelöst werden. Die Rückkehr zu einer nationalen Währung mit möglichen Auf- und Abwertungen kann nur kurzfristige Entlastungen bringen. Im Kern geht es um die Frage, ob die neoliberale Politik auf Dauer weitergeführt werden kann. Eine grundlegende Abkehr von dieser Politik hat in den einzelnen Nationalstaaten, insbesondere in der Bundesrepublik, zu beginnen. Folgende Schlussfolgerungen sind angesagt:

1.Nicht der Euro ist das Kernproblem, sondern die wachsenden Unterschiede in der Produktivität und den Lohnstückkosten in der Eurozone bzw.EU.

2. Die Europäische Währungsunion ist das Unterthema einer Debatte über die Wirtschaftsordnung des Kapitalismus und seines Geld- und Kreditsystems und eines Postkapitalismus des 21.Jahrhunderts.

3. Es geht in Europa um eine Investitionsoffensive des sozial-ökologischen Umbaus.

4. Für die Bundesrepublik ist die Belebung des Binnenmarktes mit dem Ausbau hochwertiger Dienstleistungen in Bildung, Gesundheit und Pflege vordringlich durchzusetzen. Für Griechenland, aber auch Portugal, Spanien etc, ist der Neuaufbau bzw. Erweiterung einer Produktions- und Dienstleistungsstruktur u.a. für den Export zwingend erforderlich.

5.Für die Linke bedeutet das, für eine ökonomische, soziale und politische Wende hin zum demokratischen Sozialismus zusammen mit Bündnispartnern zu kämpfen.

Die Vorstellung, es könne einen sanften Grexit geben, ist eine illusionäre Vorstellung. Abgesehen davon, dass sich die große Mehrheit der Griechinnen und Griechen für den Verbleib in der Eurozone ausspricht, ist von linker Seite vor dem Austritt aus der Eurozone und der Rückkehr zur nationalen Währung zu warnen, und das aus mehreren Gründen.

1.Die meisten Exitbefürworter übersehen, welche inflationäre Wirkung für ein Land hervorgerufen wird, das 48 Prozent seiner Lebensmittel und 82 Prozent seiner Energie aus dem Ausland beziehen muss. Die Abwertung der nationalen Währung gegenüber dem Euro hätte katastrophale Auswirkungen.

2.Die Landwirtschaft und der Tourismus alleine sind nicht in der Lage, Griechenland auf Dauer aus der Krise zu ziehen bzw. herauszuhalten. Da sonst kein relevanter Exportsektor besteht, wird sich das Defizit in der Handelsbilanz wieder vertiefen.

3. Das Schuldenproblem wäre nicht lösbar und Insolvenzen an sich lebensfähiger Unternehmen wären die Folge.

Das bedeutet, das Geld der Gläubiger müsste in eine Investitionsoffensive fließen und ein wettbewerbsfähiger industrieller und Dienstleistungssektor wäre zu errichten. Es müsste ein effektiver öffentlicher Sektor mit einer strikten Steuerdisziplin aufgebaut werden. Eine Regulierung des Bankensystems wäre durchzuführen und es müsste den progressiven Kräften unter der Führung von Syriza die Möglichkeit gegeben werden, den Rekonstruktions- und Transformationsprozess tiefer in der Gesellschaft zu verankern. Es müssen auch nach dem Ende des 3. Hilfsprogramms der EU Mehrheiten im politischen Raum gesichert werden, um die Demokratie in Griechenland weiter auszubauen. Eine Linke, die das Nationale wieder in den Vordergrund stellt und den gemeinsamen europäischen Rahmen verlassen will, wird keine Hilfe in diesem Tranformationsprozess sein. Sie kommt auch nicht darum herum zur Kenntnis zu nehmen, dass damit große Schnittmengen mit den konservativen und rechtspopulistischen Kräften in Europa entstehen werden.

(1) Siehe hierzu: Sozialismus aktuell vom 26.Juli 2018
(2) A.a.O. S. 2

Parteitag des Aufbruchs?

16. Juni 2018  Allgemein

PARTEITAG DES AUFBRUCHS ODER RATLOS IN DIE NÄCHSTEN MONATE? (1)

Der Parteitag unserer Partei in Leipzig fiel in eine Zeit des politischen Umbruchs. Die rechtspopulistischen Kräfte, an der Spitze Donald Trump mit der Devise „America first“, sind dabei, die Fundamente der internationalen und auch der nationalen Ordnungen zu zerlegen. Die Fragen der internationalen Sicherheitskonzeption und die Abwendung eines wirtschaftlichen Protektionismus stehen auf der Tagesordnung. Damit geht es auch um die Zukunft der EU, die nicht nur wegen der Flüchtlingsfrage vor einer Zerreißprobe steht. Der Brexit, das Entstehen und Erstarken rechtspopulistischer Kräfte und die jüngsten Regierungsübernahmen jener Kräfte in Italien und Slowenien zeigen, dass das europäische Projekt auf das Höchste gefährdet ist. Hinzu kommen der politische Niedergang der Sozialdemokratie, die Entwicklung der AFD und der mögliche Bruch innerhalb der Union. In dieser Situation kann für die Linkspartei bestenfalls von einer Stagnation gesprochen werden.

Vor diesem Hintergrund wäre der Parteitag in Leipzig der gebotene Anlass gewesen, sich den strategischen Herausforderungen zu stellen. Aber schon vor dem Parteitag war davon wenig zu spüren, wenn zum Beispiel Petra Paul angesichts der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen eine Programmdebatte anregte, ohne auf die angegebenen Herausforderungen einzugehen. Die sogenannte „Emanzipatorische Linke“ meinte gar, dass die Linke sich neu erfinden müsse. In dieser Situation hatte Oskar Lafontaine noch einmal die Idee einer „linken Sammlungsbewegung“ ins Spiel gebracht.
Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass die politische Linke links der Mitte derzeit kein Bündnis auf Basis eines linken Minimalkonsenses zustande bringt, es ist allerdings zu bestreiten, ob eine „linke Sammlungsbewegung“ zu mehr als einer Verschiebung innerhalb des linken Lagers führen würde. Im Gegenteil, es wäre eine Schwächung der bestehenden Formationen absehbar. Es bleibt somit festzuhalten, dass das Projekt der Sammlungsbewegung auf eine Spaltung der linken Kräfte hinauslaufen würde und damit auch der Versuch, soziale Sicherheit und eine grundlegende Änderung der Verteilungsverhältnisse durch eine linke Bündnispolitik untergraben würde. Ohne einen solchen Versuch werden weder die Sozialdemokratie noch die Linkspartei auf Dauer zu einem gewichtigen politischen Faktor werden.
Die Frage ist also, was der Parteitag in Leipzig im Hinblick auf diese politische Richtung gebracht hat?
Eigentlich sollten Themen wie die Wohnungsfrage, Gesundheit, Pflege, prekäre Beschäftigung und Bildung in den Mittelpunkt gestellt werden. Es wurden auch zwei Tage lang diszipliniert und zumeist praxisnah Anträge abgearbeitet und auch ein Wahlmarathon ohne Eskalation bewältigt. Doch durch die von Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht vorgebrachte Kritik an der Flüchtlingspolitik, die sie mit angeblichen Belastungsgrenzen und Problemen der Arbeitsmigration in Verbindung brachten, wurde die Planung des Parteitages deutlich über den Haufen geworfen. Es ging jetzt schwerpunktmäßig um die Formulierung im Parteiprogramm, in der „offene Grenzen für alle Menschen“ gefordert wird. Das Spektrum von Meinungen in dieser Frage in der Partei ist groß, wobei der Parteivorstand meinte, durch Formelkompromisse die Schwierigkeiten umschiffen zu können. Bernd Riexinger forderte dabei einen Dreiklang:
1.Bekämpfung der Fluchtursachen
2. Eröffnung einer sozialen Offensive
3.Eröffnung legaler Fluchtwege
Diese Position unterstützte Katja Kipping ausdrücklich und versuchte, den Konflikt mit Sahra Wagenknecht zu entschärfen. Sahra Wagenknecht bestand aber weiter darauf, eine Welt ohne Grenzen sei unter kapitalistischen Vorzeichen kein realistisches linkes Ziel und wehrte sich gegen die pauschale Formulierung, dass jeder, der nach Deutschland komme, einen Anspruch auf landesübliche Sozialleistungen habe und sich hier Arbeit suchen könne. Das wiederum führte zur Empörung eines Teils der Parteitagsdelegierten. Letztlich kündigten der Parteivorstand und die Fraktionsführung an, dass, da auf dem Parteitag keine Einigung möglich war, die Diskussion auf einer Klausurtagung und Fachkonferenz weitergeführt werde.
Die Konsequenz der mangelnden Bereitschaft der Partei- und Fraktionsführung, bereits im Vorfeld des Parteitages den Konflikt zu entschärfen, bestand und besteht darin, dass sich die Partei zerlegt und eine Spaltung hervorgerufen wird, nicht zuletzt durch die von Wagenknecht und Lafontaine propagierte „Sammlungsbewegung.“ Auch in der Linken ist also nicht zu übersehen, dass es eine große Bandbreite von Positionen zur EU, ihrer Reformierbarkeit oder auch zum Austritt aus der EU bzw. dem Euro gibt. Wenn es nicht gelingt, in diesen Fragen eine vernünftige Debatte zu organisieren, wird auf die Dauer keine Lösung der vielfältigen sozialen Probleme möglich sein und kein demokratisches Bündnis mit anderen fortschrittlichen Parteien und Organisationen zustande kommen.

(1) Siehe auch „Sozialismus aktuell“ vom 5.6.18 und 11.6.18

Kritik des Koalitionsvertrages

10. Februar 2018  Allgemein

Dr.Peter Behnen

Der Titel des Koalitionsvertrages der CDU/CSU und der SPD lautet: „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Es ist zu sehen, ob mit dem Koalitionsvertrag, falls er in Politik umgesetzt wird, diese Ziele erreichbar sind.

Bemerkenswert ist, dass das Thema der europäischen Integration einen besonderen Stellenwert einnimmt. Das ist auch notwendig, weil der Rechtspopulismus und verschiedene EU-Skeptiker mit ihrer Ablehnung der EU sich seit einiger Zeit im politischen Aufwind befinden, nicht zuletzt durch den Brexit-Beschluss in Großbritannien. Die wahrscheinlichen Koalitionäre halten dagegen, indem sie Protektionismus, Isolation und Nationalismus eine Absage erteilen und auch die Eurozone nachhaltig stärken wollen. Dazu gehört auch, dass mit Frankreich zusammen ein Eurobudget und ein Europäischer Währungsfonds zur Stützung finanzschwächerer EU-Länder aufgebaut werden soll. Es wird ein Ende des Spardiktats in Europa gefordert, besonders von den Mitgliedern der Sozialdemokratie in der Koalitions-Kommission. Das ist eine klare Abwendung vom Schäuble-Kurs, der Hilfen für wirtschaftsschwache Eurostaaten nur gegen neoliberale Gesellschaftsreformen in diesen Ländern vorsah. Wenn dieser neue Kurs gelingen sollte, wäre eine neue Etappe europäischer Zusammenarbeit zusammen mit Frankreich nicht auszuschließen.

Doch wie steht es mit einer neuen Dynamik in Deutschland? Gefordert werden müsste, die einseitigen Verteilungseffekte der neoliberalen Politik aufzuheben. Der Ausbau sozialstaatlicher Regulierungen bleibt allerdings im Koalitionsvertrag unterbelichtet. Eine Umverteilung zu Lasten der Lohnabhängigen konnte die Union zwar nicht durchsetzen, aber der Ausbau von Themen wie z.B. der Mindestlohn, der Rente mit 63 oder der Mietpreisbremse bleiben hinter den Erwartungen zurück. Eine wirkliche Umverteilung von oben nach unten, die ökonomisch und sozial notwendig wäre, findet nicht statt. Das kann an verschiedenen Punkten gezeigt werden.

Positiv bei der Rentenproblematik ist, dass bis 2025 das Rentenniveau bei 48% gehalten werden soll. Dabei wird lediglich eine erwartete Entwicklung des Rentenversicherungsberichts festgeschrieben. Die Einführung einer „Grundrente“ wird nur einen kleinen Teil der Menschen treffen, die schon jetzt in Altersarmut leben, verursacht wegen ihrer restriktiven Bedingungen. Sie ist mit 880 Euro viel zu gering, wenn berücksichtigt wird, dass die Armutsschwelle laut Statistischem Bundesamt bei 969 Euro liegt. Es ist also bei der „Grundrente“ kein Schutz vor Altersarmut zu erwarten. Das Gleiche gilt für die Kinderarmut bzw. für die Situation vor allem der Alleinerziehenden, die zu 68% von Armut betroffen sind. Um Kinderarmut wirklich zu bekämpfen bedürfte es einer Aufstockung der Regelleistungen, auf die Situation der jeweiligen Eltern zugeschnitten, die es dann auch den Eltern erlauben würde, sich beruflich zu qualifizieren bzw. einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.

Die Deregulierung der Arbeitsmärkte, die unsere Arbeitsmärkte prägt, wird in einem viel zu geringen Maß zurückgenommen. Durch den Koalitionsvertrag soll Langzeitarbeitslosen eine Perspektive eröffnet werden, indem die Zahl öffentlich geförderter Arbeitsplätze ausgeweitet werden soll. Das ist sicherlich zu begrüßen, doch es sollen nur 150000 Personen gefördert werden, was nur der Hälfte des erforderlichen Bedarfs entspricht. Es besteht zudem die Gefahr, dass nur „1 Euro-Jobs plus“ gefördert werden also keine regulären Arbeitsplätze entstehen.
Ein besonderes Anliegen der SPD war die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen. Das betrifft augenblicklich etwa 4% der 40 Millionen Beschäftigten in der Bundesrepublik, im öffentlichen Dienst immerhin 11% der Beschäftigten. Die Befristung von Arbeitsverträgen ohne sachlichen Grund soll jetzt nur noch für 18 Monate, statt 24 Monate bisher, zulässig sein. Diese Befristung kann jetzt nur noch einmal wiederholt werden, bisher war das dreimal möglich. Diese Eingrenzung ist sicherlich eine Verbesserung gegenüber der jetzigen Situation, ist aber nur ein bescheidener Beitrag zur Eindämmung prekärer Arbeitsverhältnisse.

Weitgehend offen bleiben die Reform der Krankenversicherung bzw. die Abschaffung der Zwei-Klassen-Medizin. Ob eine Angleichung der Arzthonorare für gesetzlich und privat Versicherte stattfinden wird ist noch unklar. Von einer weitgehenden Einführung einer Bürgerversicherung ist allerdings nicht mehr die Rede. In Fragen der Bildung war man sich einig, viel Geld in die Digitalisierung der Schulen zu stecken und ab 2025 ein Recht auf eine Ganztagsbetreuung von Grundschulkindern einzuführen. Aber auch hier ist die minimale Dosierung zu kritisieren und kann nicht von einem großen Wurf gesprochen werden.

Zusammengefasst kann Folgendes festgehalten werden. Diese Koalitionsvereinbarungen, sofern sie das zukünftige Regierungsprogramm werden, werden die soziale Spaltung in Deutschland kaum zurückdrängen. Manche Ansätze sind positiv, aber die Stärkung der Binnenwirtschaft hält sich in engen Grenzen und die soziale Ungleichheit bleibt ein Hindernis zur Entfaltung der gesellschaftlichen Ressourcen. Das kann rückwirkend auch wieder die an sich positiv gedachte Weiterentwicklung einer europäischen Integration negativ beeinflussen. Die mittelfristige Alternative bleibt weiterhin eine pluralistische linke Reformregierung, die viel weitergehende Einzelmaßnahmen zu treffen hätte und, was von der Großen Koalition nicht erwartet werden kann, einen Weg zur grundlegenden Veränderung des Kapitalismus hin zu einem demokratischen Sozialismus zu beschreiten hätte. Das wäre nur möglich durch einen tiefgehenden Wandel der SPD, eine klare und nachvollziehbare Positionierung der Linken und eine Integration der Grünen als Gesamtpartei in ein pluralistisches linkes Parteienbündnis.

(1) Siehe auch: Joachim Bischoff u.a. in Sozialismus aktuell vom 9.2.2018

Erreichung und dauerhafte Erhaltung einer linken Hegemonie als mittelfristige Perspektive.

08. Februar 2018  Allgemein

Dr.Peter Behnen

Die Wahlerfolge der AFD bei allen Landtagswahlen 2015/2016 und der Bundestagswahl 2017 haben ein Schlaglicht auf die Stimmungslage breiter Bevölkerungsteile geworfen. Eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD wird auf dieser Basis mit hoher Wahrscheinlichkeit die Fortsetzung der Politik der letzten Legislaturperiode bedeuten und die eingefahrene Bahn nicht verlassen. Es ist jedenfalls kein grundlegender Politikwechsel zu erwarten (1). Die mittelfristige Alternative zu dieser Politik wäre eine linkspluralistische Reformregierung aus SPD, Linkspartei und Grünen. Es ist damit zu rechnen, dass auch die Wirtschaft der Bundesrepublik auf eine abschüssige Ebene der europäischen und weltwirtschaftlichen Entwicklung gerät, insbesondere deshalb, weil die bisherige Politik im Grundsatz beibehalten wird. Das bedeutet politisch, dass der Bundesrepublik, als sozial zerklüftetes Land, ein weiterer verrohter Umgang in der Zivilgesellschaft bevorsteht, eine zunehmende Entleerung demokratischer Prinzipien und mit großer Wahrscheinlichkeit eine Fortsetzung des Niedergangs der SPD. „Auch für eine uneinige und regierungsunfähige Partei „Die Linke“ ist unter diesen Bedingungen nicht von einem kommoden Überwintern in der Opposition auszugehen.“ (2)

Diesem Szenario steht jedoch mittelfristig die Chance einer linken Reformregierung gegenüber. Dazu bedürfte es allerdings einer Beendigung der Austeritätspolitik und einer von der Bundesrepublik ausgehenden Strukturpolitik, die zugunsten der Stabilisierung schwächerer Volkswirtschaften der Eurozone und der EU betrieben werden muss. Im Inneren der Bundesrepublik müsste eine Weichenstellung zu einem evolutionären Prozess der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Umgestaltung in Richtung der Ziele eines demokratischen Sozialismus erfolgen. Dabei käme der Sozialdemokratie als stärkster Partner in einer Reformregierung eine besondere Verantwortung zu. Sie müsste über ihren immer noch wirksamen antikommunistischen Schatten springen und zusammen mit der Linkspartei den linken Flügel der Grünen stützen und dazu beitragen, die grüne Gesamtpartei in ein Reformbündnis zu integrieren. Die Linkspartei müsste es schaffen, einen tragfähigen Konsens in den eigenen Reihen zwischen Oppositionsbefürwortern und EU-Kritikern einerseits und nicht prinzipiell einen Regierungseintritt ablehnenden „Reformeuropäern“ andererseits hinzubekommen.

Die Ausgangssituation in der Bundesrepublik sieht so aus, dass weder eine klare Hegemonie für eine Fortsetzung der bisherigen Politik noch für eine grundlegende Reformalternative existiert. Es ist zwar festzustellen, dass es der bundesdeutschen Bevölkerung nach Meinung vieler Bürgerinnen und Bürger besser geht als dem Rest Europas, aber trotzdem besteht ein großes Unbehagen über die tiefgehende soziale Spaltung in der Gesellschaft. Das könnte auch ein Ansatzpunkt für einen grundlegenden Politikwechsel sein, völlig unabhängig von wahrscheinlichen Kriseneinbrüchen im Finanzsektor und produktivem Sektor (Industrie und kapitalistische Dienstleistungen). Dazu ist es notwendig, die Perspektive eines grundlegenden Politikwechsels im Bewusstsein der Bevölkerung zu verankern. Es muss die Hoffnung bestehen, dass ein solcher Politikwechsel eine Veränderung zum Besseren erbringen wird, sowohl durch die inhaltlichen Vorschläge als auch durch ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit, das den Vertretern einer neuen Politik entgegengebracht wird.
Vor diesem Hintergrund gilt es, kurz – und mittelfristige Vorschläge und Maßnahmen zu einem stimmigen Gesamtpaket zusammenzubringen. Die Einzelforderungen müssen an drängenden heutigen Problemen ansetzen und auch in kürzerer Frist realisierbar sein. Das sind zum Beispiel der Kampf gegen die Verteilungsungerechtigkeit, für die Demokratisierung der Arbeitswelt, die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen durch eine soziale Steuerreform, die Ausweitung der öffentlichen Investitionen, die Sicherung der umlagefinanzierten Sozialversicherung mit der Perspektive einer Bürgerversicherung, Fortschritte in der Wohnungsfrage, eine bessere Integration von Flüchtlingen, vorwärtstreibende Reformen in der Eurozone und EU, der Kampf gegen das internationale Wohlstandsgefälle und vieles mehr. Die Einzelforderungen müssen in ihrer Gesamtheit die Perspektive einer mittelfristigen Gesellschaftsveränderung erbringen und die kritische Schwelle für einen grundlegenden Politikwechsel überschreiten. Das Gesamtpaket muss die Forderungen zusammenfassen und die Überzeugung vermitteln, dass nur durch einen demokratischen Sozialismus eine bessere Gesellschaft entstehen kann und die Versprechen, die von Vertretern des Kapitalismus, genannt soziale Marktwirtschaft, gemacht wurden, eingelöst werden können. Der Kapitalismus ist mit dem Finanzkapitalismus und seiner jahrzehntelangen Verschlechterung der sozialen Lage an seiner Systemgrenze angekommen, die geradezu nach dem Aufbau eines demokratischen Sozialismus verlangt. Der Politikwechsel ist durch ein Bündnis von SPD, Linkspartei und Grünen zu tragen. Organisationen wie Gewerkschaften und alternative Gruppierungen verschiedenster Art, die sich dem Ziel der Demokratisierung verschrieben haben, sind in den Veränderungsprozess einzubeziehen. Es geht also nicht darum, eine neue Sammlungspartei zu gründen sondern um die Herstellung eines Konsenses verschiedener Organisationen, die für den Aufbau eines demokratischen Sozialismus zu gewinnen sind und dafür kämpfen, eine politische Hegemonie zu erreichen und dann dauerhaft zu erhalten.

(1) Siehe zum Folgenden: Stephan Krüger, Soziale Ungleichheit, Hamburg 2017 S. 573ff.
(2) a.a.O. S.573

Der aufhaltsame Aufstieg der AFD.

28. Januar 2018  Allgemein

Dr.Peter Behnen

Bertolt Brecht stellte 1941 in seiner Parabel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ klar, dass der Faschismus kein unabwendbares Schicksal darstellte sondern als Konsequenz der herrschenden Verhältnisse anzusehen war. Ähnliches kann heute zum Aufstieg der AFD gesagt werden. Auch ihr Aufstieg ist bemerkenswert. Seit ihrer Gründung im Jahre 2013 hat sie eine dynamische Entwicklung hingelegt. Ihr gelang 2014 mit einem euroskeptischen Programm der Einzug ins Europaparlament und fünf Länderparlamente und 2017 ein gewaltiger Einzug in den Bundestag. Schon im Jahre 2015 kam es zu harten Auseinandersetzungen zwischen dem wirtschaftsliberalen Flügel und rechtspopulistischen Strömungen und dann zum Bruch der Partei. Die Wirtschaftsliberalen zogen sich aus der Partei zurück und die Radikalisierung nach rechts in der AFD nahm deutlich zu. Die Partei vertritt heute eine teilweise rechtsextreme und völkisch-nationalistische Programmatik.

Die fragile Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik, die soziale Spaltung in der Gesellschaft sowie die starke Flüchtlingsbewegung nach Europa sind die Elemente, die der AFD eine Etablierung im bundesdeutschen Parteienspektrum ermöglichen konnten. Sie ist nicht als reine Protestpartei anzusehen, sondern sie besetzt rechtskonservative bis rechtsextreme Leerstellen, die u.a. durch die Umwälzungen im bürgerlichen Lager entstanden sind. Mit der Eskalation der Euro- und Finanzkrise und dem Zustrom der Schutzsuchenden sind wir europaweit mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus konfrontiert. Die Parteien des bürgerlichen Lagers und die Sozialdemokratie sind gelähmt. Beide Parteienfamilien bieten keine überzeugenden Lösungen für die schwächelnde Wirtschaftsentwicklung, die wachsende Kluft in den Verteilungsverhältnissen und den Niedergang der öffentlichen Infrastruktur. In großen Teilen der Bevölkerung herrscht eine Stimmung der Zukunftsangst und des Missmutes gegenüber den etablierten Parteien vor, sodass immer mehr Wähler bereit sind, dem Rechtspopulismus eine Chance zu geben.
Im Zentrum der rechtspopulistischen Mentalitäten steht die Kritik an den herrschenden Eliten und dem politischen System insgesamt. Die häufig vorgebrachte Interpretation, es handele sich um ein Unterschichtphänomen ist falsch. Die unteren sozialen Schichten haben sich schon seit langem von der politischen Willensbildung und den Wahlen verabschiedet. Mit Protesten und Sympathien für die AFD reagiert vor allem die untere Mittelschicht, die sich massiv bedroht fühlt und verunsichert ist. Das lässt sich an ihrer Lebenssituation und sozialen Struktur deutlich zeigen. Rund ein Viertel der Pegida- Anhänger zum Beispiel haben einen Universitäts- oder Fachhochschulabschluss, sie arbeiten zu 52 Prozent in Vollzeit, der Anteil der Rentner beträgt 34 Prozent. Unzufrieden sind die Befragten, obwohl sie sich relativ zur Unterschicht noch nicht in einer vergleichbaren prekären Lage befinden, mit der Situation in der Bundesrepublik. Rund 65 Prozent sehen ihre Zukunft düster und landen dann zu einem großen Teil bei der AFD. Diese Partei stützt sich auf weit verbreitete Ressentiments. Während die Vorstellungen von Sicherheit und Ordnung, Identität und Gemeinschaft durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse schon seit längerem an Stabilität eingebüßt haben, gerieten diese Wertvorstellungen im alltäglichen Bewusstsein durch die nicht durchschauten Finanzkrisen und die unkontrollierte Massenzuwanderung von Schutzsuchenden vollends aus den Fugen. Es nahmen Ressentiments und soziale Ängste zu, was sich in einer wachsenden Unterstützung für Positionen von Ab- und Ausgrenzungen umsetzt. Es kommt zu einer aggressiven Artikulation von Ressentiments gegenüber Muslimen, Asylbewerbern und Migranten und auch zu Hassparolen gegenüber den politischen und medialen Eliten. Inzwischen beteiligen sich auch Teile der bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie an den Ab- und Ausgrenzungsritualen. Diese Teile stellen sich immer weniger gegen rechtsextreme Einstellungen. Die Kehrseite der Medaille ist, dass aus Anhängern aller herkömmlichen Parteien die AFD Zulauf erhält.
Festzuhalten ist, dass der Rechtspopulismus keine Bewegung der Armen, sondern eine Bewegung der unteren Mittelschichten darstellt. Diese Bewegung ist überall in Europa auf dem Vormarsch, sei es die Front National, Ukip, Lega Nord, FPÖ und die AFD in der Bundesrepublik. Sie ist eine Bewegung gegen das politische Establishment, das keine wirtschaftliche, politische und soziale Sicherheit mehr garantieren kann. Diese Bewegung ist allerdings nicht unaufhaltsam. Sie kann aufgehalten werden, wenn überzeugende Konzepte für die wirtschaftliche, politische und soziale Weiterentwicklung vorgelegt und umgesetzt werden. Zu diesen Konzepten gehören eine stärker regulierte Wirtschaftsentwicklung, ein entschlossener Kampf gegen die Einkommens- und Vermögensungleichheit und für eine größere soziale Sicherheit, eine Einbeziehung der Bevölkerung in politische Entscheidungen sowie eine demokratische und soziale Weiterentwicklung in Europa. Für solche Konzepte Bündnispartner zu finden ist u. a. Aufgabe der Linken. Nur einem breiten Block nicht neoliberaler Kräfte wird es gelingen, dem Rechtspopulismus und damit der AFD Einhalt zu gebieten. Das ist von der zukünftigen Koalition aus CDU/CSU und SPD nicht zu erwarten.

(1) Siehe hierzu: Joachim Bischoff und Bernhard Müller, Der Aufstieg der AFD, in Sozialismus aktuell vom 4.3. 2016

Bernd Riexinger und die sozialistische Klassenpolitik

17. Januar 2018  Allgemein

Bernd Riexinger stellt sich mit Recht die Frage, was heute eine Klassenpolitik der Linken sein muss. „Was genau Klasse und Klassenpolitik bedeuten kann, wie sich die „Arbeiterklasse“ in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat und was daraus für das Selbstbewusstsein und die politische Orientierung der Beschäftigten folgt- das sind Fragen, die mit Ruhe zu diskutieren sich lohnt.“(1) Weil die Klärung dieser Fragen von elementarer Bedeutung für eine linke Politik sind, beginnt Riexinger mit einer näheren Bestimmung der Arbei-terklasse. Er grenzt sich zu Beginn von linken Gruppen und Organisationen der 1960er und 1970er Jahre ab. Sie hätten sich in ihrer Sichtweise auf die Arbeiterklasse meist auf die Werktätigen in der Industrie beschränkt. Bernd Riexinger hält seine Definition der Arbeiterklasse dagegen. „Alle Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen und in ihrer Stellung in den Betrieben keine unternehmerische Funktion ausüben, sind Teil der Klasse der Lohnabhängigen oder-klassisch gesprochen- der Arbeiterklasse bzw. der Arbeiterinnenklasse, wie es richtiger heißen müsste. Das ist der Begriff der Arbeiterklasse, wie ihn Marx geprägt hat.“ (2) Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Bernd Riexinger bei seiner Analyse des zeitgenössischen Kapitalismus und der Strategiebestimmung auf die Marxsche Theorie zurückgehen will. Das ist leider nicht selbstverständlich in der Linkspartei. Das Problem bei Riexingers Ausführungen ist allerdings, dass Marx selbst keine Klassenanalyse des Kapitalismus vorgenommen hat. Diese sollte erst den abschließenden Gegenstand der Marxschen Darstellung der Kritik der politischen Ökonomie im 3.Band des „Kapital“ bilden, zu der Marx nicht mehr gekommen ist. Auf der Grundlage der Darstellung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses in seinen oberflächlichen Erscheinungsformen, zum Beispiel der endgültigen Verschleierung der Mehrwertproduktion, sind zugleich die Existenzgrundlagen der bürgerlichen Gesellschaftsklassen und die Grundlagen des Alltagsbewusstseins der ökonomisch handelnden Personen benannt. Marx hat aus gutem Grund die Klassenanalyse an das Ende seiner Untersuchung gestellt. Dadurch wird deutlich, dass das alltägliche Bewusstsein der Mitglieder der verschiedenen Klassen in ganz unterschiedlicher Weise den Verschleierungen der wirklichen Zusammenhänge dieser Gesellschaft unterliegt. Anders wäre es gar nicht möglich, dass die beherrschten Klassen über lange Zeit, trotz Krisen, die Grundlagen der Gesellschaft nicht in Frage stellen. Für eine Klassenpolitik der Linken gilt es deshalb, eine genaue Analyse der heutigen Klassengliederung und ihre Auswirkung auf das Bewusstsein vorzunehmen. Bei Bernd Riexinger erfolgt allerdings nur eine einfache Ineinssetzung des Begriffs der Arbeiterklasse und der Lohnarbeit. Da gilt es zu differenzieren, um unterschiedlichen Bewusstseinsformen auf den Grund gehen zu können.

Wenn heute von der Arbeiterklasse gesprochen werden kann, dann sind damit zuerst Lohnabhängige des industriellen Kapitals (produktive Arbeiter) und Lohnabhängige des kommerziellen Kapitals (unproduktive Arbeiter) gemeint. Hinzukommen Lohnabhängige bei nichtkapitalistischen Kleinunternehmen sowie Scheinselbständige, Tagelöhner, das Prekariat und die industrielle Reservearmee. Von der Arbeiterklasse zu unterscheiden ist die lohnabhängige Mittelklasse. Damit sind gemeint Lohnabhängige beim Staat, Sozialversicherungsträgern und private gemeinwirtschaftliche Organisationen. Zu nichterwerbstätigen Haushalten zählen vor allem Rentner und Pensionärshaushalte. Die Kapitalistenklasse umfasst reine Kapitaleigentümer, tätige Eigentümerkapitalisten und das angestellte Top-Management. Zur traditionellen Mittelklasse gehören Unternehmer der nichtkapitalistischen Warenproduktion und -zrkulation. Damit sind vor allem kleine Handwerker und Kaufleute gemeint (3).
Es ist Bernd Riexinger zuzustimmen, dass ein verengter Blick auf die Werktätigen in der Industrie vermieden werden muss, aber die die Gesamtheit der Lebenssphären der Individuen ist nicht unstrukturiert, sondern muss im Hinblick auf die Nähe bzw. Weite zu den wertschöpfenden Sektoren des Kapitals näher bestimmt werden. Dadurch werden gesellschaftlich strukturierte Unterschiede sichtbar mit Konsequenzen für die Entwicklung der Lebenssituation und von Klassenbewusstsein. Es sind die größeren und feinen Unterschiede auf ihren klassenmäßigen Ursprung herauszuarbeiten, wenn eine sozialistische Klassenpolitik erfolgreich sein soll. Dann kann auch eine verbindende Klassenpolitik betrieben werden, wie es Bernd Riexinger richtig formuliert. „Die Linke braucht eine verbindende Klassenpolitik. Sie darf die verschiedenen Milieus nicht gegeneinander ausspielen, einen Gegensatz zwischen Prekären, Erwerbslosen, ArbeiterInnen und neuen Beschäftigungsgruppen aufbauen. Im Gegenteil, sie muss diese verschiedenen Milieus und ihre Interessen miteinander verbinden.“ (4) Dabei sind nicht nur Fragen der Löhne und Arbeitsbedingungen sondern auch Fragen der Lebensweise von großer Bedeutung. Umso wichtiger ist es, die Unterschiede herauszuarbeiten. Wenn der politische Kampf um die Hegemonie in der Gesellschaft als Voraussetzung für eine demokratische Erringung der Macht erfolgreich geführt werden soll, sind die Inhalte des Alltagsbewusstseins samt ihrer Veränderungen im Zeitablauf zu berücksichtigen. (5) Es müssen von der Linken überzeugende inhaltliche Lösungsvorschläge geboten und auch gesellschaftliche Befindlichkeiten und ideologische verdrehte Wahrnehmungen der Menschen angesprochen werden. Dies schließt das Eingehen auf Abstiegs- und Ausgrenzungsängste größerer Bevölkerungsteile ein mit dem Ziel, rationale Problemlösungen mehrheitsfähig zu machen. In Bezug auf Bündnispartner bedeutet das, intensive Diskurse über konzeptionelle Alternativen gegenüber der herrschenden Politik zu führen und auch gemeinsame Aktionen mit außerparlamentarischen Kräften durchzuführen. Um in Zukunft zur Übernahme der Regierung durch ein pluralistisches linkes Parteienbündnis zu kommen, ist die Realisierung eines politischen Minimalkonsenses erforderlich. Das muss zu fühlbaren sozialen Verbesserungen für größerer Bevölkerungsteile, einen progressiven Umschwung in der öffentlichen Meinung und auf lange Sicht zu einem evolutionären Übergang in einen demokratischen Sozialismus führen.

(1) Siehe Bernd Riexinger: Marxte noch mal? Luxemburg 2-3/2017
(2) a.a.O. S.3
(3) Siehe Stephan Krüger: Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013, Hamburg 2015, S.22
(4) Bernd Riexinger a.a.O. S.4
(5) Siehe Stephan Krüger: Soziale Ungleichheit, Hamburg 2017, S.409 ff.

Oskar Lafontaine und die linke Sammungsbewegung

01. Januar 2018  Allgemein

Dr.Peter Behnen

Oskar Lafontaine hat in einem Interview zum Jahresbeginn 2018 zentrale Aufgabenfelder der Linken umrissen (1). Er knüpft dabei an der aktuellen Parteienlandschaft an. Er stellt fest, dass die Rechte, also auch die AFD, immer dann stark geworden sei, wenn gegen das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verstoßen wurde und sich größere Bevölkerungsteile durch die etablierten Parteien nicht mehr vertreten fühlten. Selbst ehemalige Arbeiterparteien hätten sich dem Neoliberalismus verschrieben und große Ungleichheiten bei der Einkommens- und Vermögensverteilung zugelassen. Das gelte auch und gerade für die SPD. Sie sei in erster Linie verantwortlich für den Niedriglohnsektor, den zu geringen Mindestlohn, die Teilprivatisierung der Altersvorsorge und die Bedrohung durch die millionenfache Altersarmut. Außerdem habe sie zusammen mit der CDU/CSU in der Regierung Merkel zugelassen, dass die Politik der guten Nachbarschaft in Europa aufgegeben wurde und es viel Kritik an der dominanten Rolle der Bundesrepublik in Europa gebe. Oskar Lafontaine hält es allerdings für richtig, dass Martin Schulz im letzten Wahlkampf auf das Thema soziale Gerechtigkeit gesetzt habe angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit. Eine wirkliche Erneuerung der SPD sei aber nur vorstellbar, wenn führende Politiker und Politikerinnen der SPD sich von neoliberalem Denken befreiten. Es sei bezeichnend, dass der Irrweg der Privatisierung des Rentensystems weitergegangen werde, indem das „Betriebsrentenstärkungsgesetz“ verabschiedet worden sei.

Welche politische Alternative wird von Oskar Lafontaine vorgeschlagen? Er formuliert folgenden Vorschlag. „Diejenigen, die über die Parteigrenzen hinaus wieder mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland wollen, müssten eine neue linke Sammlungsbewegung gründen. Diese Bewegung sollte nicht nur die klassischen Parteien, sondern auch Gewerkschafter, Sozialverbände, Wissenschaftler, Kulturschaffende und andere umfassen. Dass es eine Basis für eine solche aus der Gesellschaft entwickelnde Bewegung gibt, zeigt der anfängliche Hype um Martin Schulz. Leider ist die SPD dieser Erwartungshaltung im Bundestagswahlkampf nicht gerecht geworden.“ (2) Oskar Lafontaine plädiert mit seinem Eintreten für soziale Gerechtigkeit auch für ein anderes Herangehen an die Flüchtlingsproblematik. „Ich höre immer wieder: Lange Jahre habt ihr uns erzählt, es ist kein Geld da für unsere Anliegen, für den sozialen Wohnungsbau, für eine bessere Rente, für eine bessere Arbeitslosenversicherung. Und jetzt auf einmal sind viele Milliarden verfügbar…Alle Parteien haben diesen Menschen keine zufriedenstellende Antwort gegeben… Meine Überzeugung ist: Man muss dort helfen, wo die Not am größten ist. Aktuell wenden wir für die Versorgung und Betreuung der Flüchtlinge in einem Industriestaat pro Kopf das 135fache dessen auf, was wir pro Flüchtling in den Lagern und Hungergebieten bereitstellen. Ich verstehe nicht, warum man in einer Art National-Humanismus den allergrößten Teil der Hilfe auf die Menschen konzentriert, die es geschafft haben, nach Deutschland zu kommen, während man den Millionen in den Lagern und Hungergebieten nur wenig hilft.“ (3)

Oskar Lafontaine ist zuzustimmen, wenn er eine linke Sammlungsbewegung für soziale Gerechtigkeit einfordert. Ob das eine Art linke Volkspartei sein muss, wie er im Spiegel-online formuliert, sei dahingestellt. Realistischer scheint es zu sein, dass es darum geht, ein linkes Bündnis mit einem nach vorne gerichteten Minimalkonsens zu erreichen. Dieses Bündnis muss sich auf ökonomisch-soziale Sofortmaßnahmen verständigen, die für die Mehrheit der Bevölkerung fühlbare Verbesserungen erbringen und zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung zu Gunsten fortschrittlicher Kräfte führen. Für die Linke sollte dabei wichtig sein im Auge zu behalten, dass wir es inzwischen mit einer Systemkrise des Kapitalismus zu tun haben (4). Wir haben ein marodes Finanz- und Banksystem, das auf Dauer nicht durch öffentliche Gelder oder staatliche und Zentralbankgarantien saniert werden kann. Hier wird eine Vergesellschaftung des Finanzsektors und organisierte Verteilung der Wertverluste vonnöten sein. Ferner ist eine Reform des Finanzwesens nicht machbar, wenn es keine Nivellierung der großen Unterschiede in der Einkommens- und Vermögensverteilung gibt. Das bedeutet, dass Schritte in Richtung eines neuen Wirtschafts- und Finanzsystems, das heißt einer sozialistischen Marktwirtschaft, zu gehen sind. Finanzstabilität, Steuergerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit müssen klaren Vorrang vor dem freien Kapital-Güter und Dienstleistungsverkehr haben. Im Rahmen einer Bündnispolitik muss alles unterlassen werden, was den Weg in diese Richtung verbauen würde. Um einen linken Minimalkonsens zu erreichen, bedarf es intensiver Diskurse über konzeptionelle Alternativen zwischen progressiven Kräften der SPD, den Grünen und der Linkspartei und auch mit außerparlamentarischen Kräften. Für den Fall, dass es auf längere Sicht zu einem Umschwung in der öffentlichen Meinung kommen soll, ist ein glaubwürdiges Programm der gesellschaftlichen Veränderung durch ein linkes Parteienbündnis vorzulegen. Nur wenn es gelingt, rasche Anfangserfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu erreichen, kann ein dauerhafter Umschwung in der öffentlichen Meinung vonstatten gehen. Es muss dann der noch viel schwierigere Schritt erfolgen, die weiterführenden Elemente eines evolutionären Übergangs in einen demokratischen Sozialismus mehrheitsfähig zu machen. Diesen Weg bzw. diese Schrittfolge bei den Bündnispartnern und in der gesamten Bevölkerung sichtbar zu machen bleibt eine Daueraufgabe der Linkspartei. Es genügt also nicht, sich auf einzelne Sofortmaßnahmen, so wichtig sie auch sind, zu konzentrieren, sondern es muss immer auch die grundlegende Zielrichtung linker Politik dargestellt werden.

1) Siehe zum Folgenden: Neue Osnabrücker Zeitung (https://www.noz.de/deutschland-welt und weitere Links.)
2) a.a.O. S. 3
3) a.a.O. S.4
4) Siehe hierzu: Stephan Krüger, Wirtschaftspolitik und Sozialismus, Hamburg 2017, S.517 ff.

Linke Reformpolitik und gesellschaftliche Strukturveränderungen.

26. November 2017  Allgemein

Dr.Peter Behnen

Die gescheiterten Sondierungsgespräche von CDU/CSU, der FDP und den Grünen haben deutlich werden lassen, dass die etablierten Parteien immer größere Schwierigkeiten haben, eine gemeinsame Linie für eine Regierungspolitik zu finden. Was vor allem fehlt, ist ein nachvollziehbares Konzept der sozialen Veränderung, das zu einer wirklichen Verbesserung der Lebenssituation der großen Masse der Bevölkerung führt. Es ist deshalb die Aufgabe der Linken, ein solches Konzept zu erarbeiten, bei dem zusammen mit reformorientierten Bündnispartnern im Rahmen einer zukünftigen Regierungsarbeit Schritt für Schritt eine Verbesserung der allgemeinen Lebensumstände erreicht wird. Sollte es gelingen, für eine Verabschiedung von der Austeritätspolitik eine politische Hegemonie zu erhalten, wird es darauf ankommen, möglichst schnell sichtbare Erfolge zu erzielen, wenn die hegemoniale Position auf Dauer gehalten werden soll. Die noch schwierigere Aufgabe wird sein, die Wahlbevölkerung und eventuelle Bündnispartner davon zu überzeugen, dass langfristig eine Strukturveränderung der Gesellschaft hin zu einem demokratischen Sozialismus und einem Marktsozialismus notwendig ist, um weitere wirtschaftliche, soziale und politische Verbesserungen zu erzielen. Ein linkes Konzept muss deshalb darstellen, wie eine kurz- und mittelfristige Reformagenda zur langfristigen Strukturveränderungen führen muss und wie diese Schritte miteinander zu verknüpfen sind. (1)

1. Der erste Schritt einer Reformagenda besteht darin, die marktbestimmte Verteilungsungerechtigkeit von Einkommen und Vermögen anzugehen. Eine Einkommensumverteilung zu Gunsten unterer Einkommensklassen wird die konsumtive Endnachfrage steigern und die Konjunkturentwicklung stabilisieren. Diese Erfolge sind kurzfristig wirksam und erfahrbar. Die Verteilung zwischen Arbeitslöhnen und Profit/Vermögenseinkünften wird in der Öffentlichkeit inzwischen nicht mehr als unantastbar angesehen, ebenso wie die politische Verteilung durch staatliche Steuerpolitik und staatliche Transfers. Es sind der Druck auf die Löhne, die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs, Midijobs, unfreiwillige Teilzeitarbeit) entschlossen zu bekämpfen. Die Untergrabung von Mitbestimmungsregelungen ist anzugehen. Es sind folgende Gegenmaßnahmen durchzusetzen: die Begrenzung der Leiharbeit und die gleiche Bezahlung wie für die Stammbelegschaft, das Verbot von Werkverträgen, Stärkung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen und die Erhöhung des Mindestlohnes. Auf der anderen Seite gilt es, die Vorstands- und Managergehälter, vor allem bei Kapitalgesellschaften, zu deckeln ebenso wie die erfolgsabhängigen Bonuszahlungen.

2. Die Erschließung neuer Techniken (Produktivkräfte) und die Digitalisierung der Arbeitswelt und des Privatlebens sind augenblicklich Schwerpunktthemen der Politik. Während im letzten Jahrhundert die bis ins Letzte getriebene innerbetriebliche Arbeitsteilung und der Aufbau von Mischkonzernen mit hoher Fertigungstiefe das Ziel war, geht es heute um eine Entflechtung von Unternehmen und um die Konzentration auf Kernkompetenzen Das wird ergänzt durch neue Lieferbeziehungen (Just in time), die Dezentralisierung von Entscheidungen und den Abbau betrieblicher Hierarchien (Gruppenarbeit). Es geht letztlich darum, die einzelbetriebliche Vergeudung von Arbeitszeit zu vermeiden. Allerdings läuft im Finanzkapitalismus ein widersprüchlicher Prozess ab, einerseits besteht die Hoffnung bei Arbeitnehmern, eine Humanisierung der Arbeitswelt zu erreichen, andererseits besteht aber auch die Befürchtung des Wegfalls von industriellen Arbeitsplätzen und einfachen Dienstleistungen und der Verdichtung von Arbeitszeiten. Es zeigt sich, dass der Finanzkapitalismus die kurzfristige Profitmaximierung, Kostensenkungsstrategien (Cost-cutting) und den Abbau von Arbeitsplätzen zum Ziel hat. Zudem blockiert die staatliche Politik die Humanisierung der Arbeitswelt durch ihre Austeritätspolitik. Eine fortschrittliche Technikentwicklung stößt somit an die Grenze privater Kapitalverwertung.
Es wäre nun eine Aufgabe linker Politik, neue Bildungskonzepte vorzulegen, auf die Qualifikation der Arbeitskräfte zu setzen und auf dem Weg zu einem demokratischen Sozialismus die Technikentwicklung mit der Humanisierung der Arbeitswelt zu verbinden. Auf diese Weise kann die politische Hegemonie bei unterschiedlichen sozialen Klassen erreicht und erweitert werden.

3. Das Ziel der Linken ist eine ist eine wirtschaftsdemokratische Organisation von Unternehmen. Der Weg in dieser Richtung zu gehen wird augenblicklich erschwert, weil durch die Konzentration von Unternehmen auf Kernkompetenzen eine Aufspaltung in kleinere Einheiten stattfindet. Es kommt zur Aushebelung von Mitbestbestimmungsregelungen, zum Beispiel bei der Montanmitbestimmung und der unterparitätischen Mitbestimmung bei großen Kapitalgesellschaften. Das hat auch negative Auswirkungen auf die Tarifverträge und die Bildung von Betriebsräten. Die Linke sollte somit nicht für die Rückkehr zu alten Regelungen kämpfen, sondern die neuen Regulierungen müssen darüber hinausgehen und den heutigen Perspektiven entsprechen. Es sind die Demokratiegrenzen der sozialen Marktwirtschaft zu überwinden, auch im Hinblick auf die Erschließung neuer Produktivkräfte. Folgende Maßnahmen sind angesagt:
– Die Informations- und Beratungsrechte in den Wirtschaftsausschüssen sind zu erweitern.
– Die Belegschaftszahlen beim allgemeinen Mitbestimmungsgesetz sind zu senken.
– Es sind Arbeitsdirektoren bei Kapitalgesellschaften mit mehr als 1000 MitarbeiterInnen von den Beschäftigten zu wählen und beim Vorstand anzusiedeln.
– Es sind Beteiligungen am Produktivkapital für die Beschäftigten durchzusetzen und eventuell Beteiligungsfonds einzurichten.

4. Zur kurz- und mittelfristigen Reformagenda der Linken muss die Stabilisierung der öffentlichen Finanzen gehören. Die neoliberale Politik der bisherigen Bundesregierung versuchte das durch die Politik der „ Schwarzen Null“ zu erreichen. Das Ziel wurde erreicht durch ein überraschend höheres Steueraufkommen, eine restriktive Ausgabenpolitik und ein geringes Zinsniveau. Diese Politik hinterließ allerdings national und international verheerende Probleme. Das ist ablesbar an gravierenden Mängeln der öffentlichen Infrastruktur, der zum Teil katastrophalen sozialen Lage verschiedener Bevölkerungsgruppen, einen europaweiten Abbau sozialer Standards und als Folge das Entstehen eines ausgeprägten Rechtspopulismus und Nationalismus.
Die Linke muss demgegenüber eine alternative Finanzpolitik ansteuern. Zu einer Steuerreform sollte eine lineare Steuerprogression mit einer Reichen-steuer gehören. Eine Vielzahl von Steuervergünstigungen ist abzubauen, sofern sie Besser- und Hochverdiener begünstigen, u. a. auch das sogenannte Ehegattensplitting. Die Absetzbarkeit von Betriebskosten gilt es einzuschränken, die Steuerfreiheit bei Unternehmensveräußerungen abzubauen und die Vermögenssteuer und Finanztransaktionssteuer einzuführen. Insgesamt ist davon auszugehen, dass alleine dadurch zusätzliche Einnahmen von etwa 85 Mrd. Euro erreicht werden. Welche Zusatzeinnahmen ein konsequenter Kampf gegen Steuerhinterziehungen erbringt muss hier noch offen bleiben. Über allem steht die Zielsetzung, die Umverteilung von unten nach oben zu beenden, den jämmerlichen Zustand der öffentlichen Infrastruktur anzugehen sowie die monetären und realen Transfers für untere und mittlere Einkommensbezieher zu steigern. Eine derartige Steuer- und Investitionspolitik muss als Einstieg in eine öffentliche Strukturpolitik gesehen werden, die die Grundlage für eine moderne Sozialismuskonzeption darstellt.

5. Die öffentlichen Investitionen sind seit dem Beginn des letzten Jahrzehnts in einem beispiellosen Niedergang. Die öffentliche Infrastruktur befindet sich in einem schlimmen Zustand, das ist zum Beispiel ablesbar an dem Zustand von Schulen und Brücken. Hierbei handelt es sich um das Ergebnis der jahrelangen Austeritätspolitik und der sogenannten Schuldenbremse. Die Konsequenz, die die Linke daraus zieht, besteht darin, dass ein massives öffentliches Investitionsprogramm und Ausgabenprogramm aufzulegen ist. Es sollte in einem Zeitraum von 5 Jahren 100 Mrd. Euro für Bildung, Verkehr, Pflege, Kinderbetreuung, energetische Sanierung, Kommunen und den Arbeitsmarkt ausgegeben werden. Daneben sollte eine europaweite Energiewende betrieben bzw. finanziell unterstützt werden. Da es inzwischen immer stärker zu einer Blockade privater Investitionen kommt und damit die Systemgrenze erreicht wird, sind eine gesamtwirtschaftliche Strukturpolitik, neben der Fiskalpolitik und Geldpolitik, zu einem Politik-Mix zu vereinen. Es ist eine schrittweise Transformation des Kapitalismus in eine sozialistische Marktwirtschaft anzusteuern.

6. Neben den schon angesprochenen staatlichen Geldtransfers und realen Transfers, zum Beispiel für Kinderbetreuung, geht es darum, zu einem grundlegenden Umbau des Sozialstaates zu kommen. Der Sozialstaat muss aus seiner Lückenbüßerfunktion heraus kommen. Bisher gilt das Subsidiaritätsprinzip, das heißt, der Staat springt nur ein, wenn private Unterstützung nicht ausreicht. Es sollte in Zukunft nicht mehr die möglichst große Einsparung sozialer Leistungen das Grundprinzip sein, sondern eine wirkliche soziale Absicherung der Bevölkerung vermittelt über Staat und Steuern. Darin ist auch eingeschlossen, der auf längere Sicht Aufbau einer Bürgersozialversicherung. Das betrifft die gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Krankenversicherung und Pflegeversicherung sowie die Arbeitslosenversicherung. Eine Bürgersozialversicherung soll für alle Gesellschaftsmitglieder soziale Sicherheit im Alter, bei Krankheit, bei Pflegebedarf, bei Berufsunfällen, bei Arbeitslosigkeit und in persönlichen Notlagen bringen. Die Bürgersozialversicherung hat bei einem Maximum an Leistung und Minimum an Verwaltungsaufwand den gesamten Sozialhaushalt der Gesellschaft zu regeln.

7. Die Wohnungsfrage ist inzwischen in der Bundesrepublik als eines der wichtigsten Probleme der Bevölkerung anzusehen. Im Jahre 2009 wurden mit 160 Tsd. Neubauten nicht einmal 50% des notwendigen Neubauvolumens gedeckt. Ein besonderer Wohnraummangel herrscht in Großstädten und Universitätsstädten. Die Folge sind explodierende Mieten, die durch die sogenannte Mietpreisbremse nicht aufgefangen werden konnten. Besonders der Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau und die Privatisierung dieses Bereiches haben zu dem eklatanten Mangel geführt. Die Linke muss deswegen drastische Eingriffe vornehmen und die Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbestandes stoppen sowie durch staatliche Programme den sozialen Wohnungsbau und gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften massiv fördern. Andernfalls werden sich die Bauspekulation und der Mietwucher weiter verschärfen. Kurzfristig sind Maßnahmen gegen die Preistreiberei angesagt, also ein direkter Eingriff in die marktbestimmte Mietpreisbildung.

8. In der Bundesrepublik herrscht inzwischen ein akuter Fachkräftemangel. Das lässt sich nur auf lange Sicht ändern. Die zwischenzeitlich geäußerte Hoffnung, dass die massive Zuwanderung von Menschen quasi von selbst das demografische und bildungspolitische Problem löst, ist unrealistisch. Bevor überhaupt von dieser Seite eine Lösung erfolgen kann, ist zuerst eine soziale Integration der Menschen zu schaffen, durch das Erlernen der Sprache, die Vermittlung von Kenntnissen über die neue Heimat, und vor allem auch bei jungen Menschen eine Schul-Berufs- und Universitätsausbildung. Dass sich in den letzten Jahren Parallelgesellschaften gebildet haben lag einerseits an unzureichenden staatlichen Dienstleistungen andererseits aber auch an Ausgrenzungen vieler Menschen aus Gründen der Konkurrenzangst. Die Linke hat deswegen Eckpunkte zur Lösung des Problems zu benennen, zum Beispiel Maßnahmen zur Erweiterung des Wohnraumbereichs und zum Angebot an Bildungs- und Ausbildungsplätzen. Diese Maßnahmen sind in ein Gesamtpaket öffentlicher Investitionen bzw. einer neuen Strukturpolitik einzuordnen. Damit könnte auch der Verdrängungskonkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten bzw. Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt Schritt für Schritt der Boden entzogen und erfolgreich der Rechtspopulismus bekämpft werden.

Damit schließt sich der Kreis. Die dargestellten Punkte einer kurzfristigen und mittelfristigen linken Reformagenda, die um Einiges zu ergänzen wären, haben verdeutlicht, dass wir inzwischen an den Grenzen privater Kapitalverwertung angelangt sind und weitere ökonomische, soziale und politische Fortschritte nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen zu haben sein werden. An dieser Stelle beginnt die Aufgabe der Linken, genau den Weg und die Perspektive der strukturellen Veränderung darzustellen. Wenn allerdings die Überwindung des Kapitalismus als Perspektive angesprochen wird, stößt man sehr schnell auf Abneigung, die eng mit der Geschichte des realen Sozialismus verbunden ist.(2) Der Marxismus und die Forderung nach einer sozialistischen Strukturveränderung sind weiterhin nur am Rande der Gesellschaft vorzufinden. Der Linken ist es bisher nicht gelungen, Eckpunkte für eine moderne und glaubwürdige sozialistische Politik zu entwickeln. Es besteht zum Beispiel Uneinigkeit darüber, welches Verhältnis der Plan und der Markt im Sozialismus haben sollen, inwieweit die extreme Ungleichheit der Einkommen im Kapitalismus für eine sozialistische Strategie nutzbar zu machen ist, welche Bedürfnisentwicklung im Sozialismus stattfinden soll und welche Position die Linke zur EU und zum Euro einnimmt. Festzustellen ist jedenfalls, dass die Finanzkrise 2007/2008 zu einem Gesichtsverlust der herrschenden Eliten geführt hat, das Vertrauen in ihre Problemlösungskompetenz massiv gesunken ist und der Rechtspopulismus, der einfache „Lösungen“ anbietet, enormen Zulauf bekommt. Jedenfalls ist die augenblickliche Lage keine Stunde der Linken.

Welche Konsequenzen sollte die Linke ziehen, wenn über die kurz- und mittelfristige Reformpolitik hinaus eine langfristige Perspektive aufgezeigt werden soll?

Es geht vor allem darum, die Fehler des Staatssozialismus deutlich zu benennen und die Eckpunkte eines modernen Sozialismus darzustellen. Es bestand das Missverständnis in der kommunistischen Weltbewegung, eine marktwirtschaftliche Steuerung der Ökonomie und der Sozialismus seien unvereinbar und es gehe im Sozialismus in erster Linie um einen möglichst umfassenden Volkswirtschaftsplan zur Abschaffung der Ware-Geld-Beziehungen. Hier lag und liegt eine eklatante Fehlinterpretation der Marxschen Theorie vor, die sich in der kommunistischen Weltbewegung hartnäckig hielt und heute noch von einem Teil der Linken vertreten wird. Es wurden sogenannte „sozialistische Errungenschaften“ gefeiert und damit waren extrem niedrige Konsumgüterpreise, sehr niedrige Mieten und ebenso niedrige Verkehrs- und Kulturtarife gemeint. Die Folge war allerdings, dass die Staatshaushalte wegen der Subventionierung der Güter sehr stark belastet wurden, die Qualität der Güter häufig minderwertig war und die BürgerInnen, sofern sie über ausländische Valuta verfügten, in die Intershops getrieben wurden. Es entstand eine latente und auch häufig offene Unzufriedenheit, auch angesichts der Konsumgüter im Kapitalismus und bei vielen Menschen der Drang, das Land zu verlassen. Das Planungssystem war gründlich diskreditiert und die Parteiführungen reagierten mit Beschränkungen der persönlichen Freiheiten, ins besondere auch der Reisefreiheit. Das alles geschah ganz unabhängig von der Propaganda des Kalten Krieges, die vom Westen massiv betrieben wurde.
Wir müssen heute die Konsequenz ziehen und auch propagieren, dass im demokratischen Sozialismus nicht einer Planungsbehörde die Entscheidungen über das Was, Wie und für Wen der Produktion überlassen wird und damit auch die Bestimmung über die gesellschaftlichen Bedürfnisse. Das liefe auf eine Bevormundung der BürgerInnen hinaus. Es bleibt nur der Weg einer dezentralen Verteilung von Angebot und Nachfrage über Märkte. Andernfalls, das hat der reale Sozialismus gezeigt. wird die Bevölkerung quantitativ und qualitativ von bestimmten Bedürfnissen und damit Konsumgütern ausgeschlossen. Das gilt ebenso für Produktionsgüter, wobei hier eine stärkere gesellschaftliche Steuerung von großer Bedeutung ist. Nur unter unentwickelten gesellschaftlichen Verhältnisse und in historischen Ausnahmesituationen, zum Beispiel in Kriegen und Bürgerkriegen, kann eine zentrale Planung notwendig und erfolgreich sein. Bei einer fortschreitenden Differenzierung der Produktionsstruktur, Branchenstruktur und Konsumstruktur wird eine zentrale Planung zunehmend ineffektiv. Es entstehen ökonomische Probleme, die durch nicht offizielle Märkte geschlossen werden. Es entstehen graue und schwarze Märkte, verbunden mit persönlicher Bereicherung und häufig Korruption. Diese Probleme sind nur dadurch zu lösen, wenn die Marktsteuerung das Primat erhält und darauf aufbauend die Steuerung und Korrektur der Märkte stattfindet. Das kann kurz als sozialistische Marktwirtschaft bezeichnet werden.

Die Kritik einiger Linker, dass sei ein Rückfall in kapitalistische Verhältnisse ist absurd. Dem ist entgegenzuhalten, dass auch im Kapitalismus der Markt der einleitende bzw. abschließende Akt der Produktion ist. Es kommt somit auf die Produktionsverhältnisse an. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind durch die Mehrwertproduktion des Lohnarbeiters gekennzeichnet. Er ist von den Produktionsmitteln getrennt, die sich im Eigentum des Kapitalisten befinden. Die Produktionsmittel werden zu Kapital und der Kapitalist eignet sich den Mehrwert an, reinvestiert einen Teil des Mehrwerts um dann die Akkumulation des Kapitals auf höherer Stufenleiter weiterzuführen. Die Ergebnisse sind die Anhäufung des Kapitals auf der einen Seite und der Zwang, die Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen, auf der anderen Seite. Sozialistische Produktionsverhältnisse gehen in eine diametral andere Richtung. Hier geht es darum, die Mitbestimmung und Entscheidungsmöglichkeiten der Lohnabhängigen schrittweise zu erweitern und das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das Direktionsrecht des Kapitalisten und die Mehrwertproduktion zurückzudrängen. Es wird schrittweise eine wirtschaftsdemokratische Struktur der Unternehmen verwirklicht. Das hat auch Einfluss auf das Bewusstsein der Lohnabhängigen. Im Kapitalismus ist das Bewusstsein von Freiheit und persönlicher Leistung dominant, insbesondere deswegen, weil durch den Arbeitslohn der Schein entsteht, die Arbeit bezahlt zu bekommen. Das Herrschaftsverhältnis im Produktionsprozess und die Aneignung des Mehrwertes durch den Kapitalisten werden verschleiert. Es wird nicht gesehen, dass nur die Arbeitskraft und nicht die Arbeit bezahlt wird. Je krisenhafter sich allerdings der Kapitalismus entwickelt, desto stärker kann das Bewusstsein von Unterdrückung in der Produktion zum Tragen kom-
men. Gewinnt das Bewusstsein die Oberhand, dass die erkämpften Schutzrechte für die Lohnabhängigen nicht ausreichen, werden neue Formen der Überwindung des Kapitalismus gesucht, zum Beispiel durch die Verwirklichung von genossenschaftlichem Eigentum, Belegschaftseigentum, Branchenfonds und auch staatlichem Eigentum. Illusorisches Bewusstsein wird dann angegangen durch die Veränderung der Organisations- und Eigentumsformen und die Verwirklichung von wirtschaftsdemokratischen Verhältnissen. Eine sozialistische Marktwirtschaft steht somit auf drei Säulen, die wirtschaftsdemokratische Verfassung der Unternehmen, das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln und eine wirksame Steuerung der Märkte. Dabei erhält die Strukturpolitik einen besonderen Stellenwert, sie ist für die politische Steuerung der Investitionen zuständig, im Gegensatz zur Strukturpolitik im Kapitalismus, wo sie sie nur am Rande zur Bewältigung von meistens regionalen Krisen eingesetzt wird ( z.B. Krise des Bergbaus im Ruhrgebiet). In der sozialistischen Marktwirtschaft übernimmt sie die Führerschaft bei der gesellschaftlichen Investitionsentwicklung und ist noch der Finanzpolitik und Geldpolitik übergeordnet. Sie bedient sich dabei im Wesentlichen dreier Instrumente, den öffentlichen Beteiligungsgesellschaften, öffentlichen Managementagenturen und Kreditinstituten mit Sonderaufgaben.

Insgesamt ist festzuhalten, dass die kurz- und mittelfristige linke Reformpolitik mit Bündnispartnern durchzusetzen ist und Mehrheiten in der Bevölkerung für diesen Weg zu gewinnen sind. Das muss gegen den zu erwartenden Widerstand der bürgerlichen Kräfte und verschiedener Medien auf demokratische Weise gelingen. Die noch schwierigere Aufgabe besteht darin, weitere Elemente einer sozialistischen Umgestaltungspolitik mehrheitsfähig zu machen und zu halten. Die Verteidigung der linken Hegemonie bleibt somit eine Daueraufgabe. Das wird nur dann möglich sein, wenn sich die Erkenntnis durchsetzt, dass nur eine sozialistische Marktwirtschaft und ein demokratischer Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus eine höhere Produktivität und Effektivität, die Überwindung der Krisenentwicklung und mehr Mitgestaltung und soziale Gerechtigkeit ermöglichen.

(1) Siehe hierzu umfassend: Stephan Krüger, Soziale Ungleichheit, VSA- Verlag Hamburg 2017, S. 529-555.
(2) a.a.O. S. 508-528.

Wohin führt die Grundsatzdebatte der SPD?

31. Oktober 2017  SPD & LINKE, Theoretische Beiträge

Dr.Peter Behnen

Nach dem desaströsen Ergebnis der Bundestagswahl 2017 eröffnet die SPD eine Grundsatzdebatte, deren Zwischenergebnisse auf einem Parteitag im Dezember 2017 vorgestellt werden sollen (1). Der Parteivorsitzende Martin Schulz hatte bereits nach der Wahl „Mut zur Kapitalismuskritik“ verlangt und es wurden 8 Regionalkonferenzen angesetzt, auf denen über künftige inhaltliche Schwerpunkte aber auch neue Strategien gesprochen werden soll. Dass man hier zu schnellen Ergebnissen komme, daran glaubt Johannes Kahrs, der Sprecher des rechten „Seeheimer Kreises“, nicht. Ganzen Beitrag lesen »

Die Systemkrise des Kapitalismus und die Aufgabenfelder der Linken.

29. Oktober 2017  Kommentare, Theoretische Beiträge

Dr.Peter Behnen

Wir haben seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine ökonomische Situation, die aus Sicht der Marxschen Theorie als strukturelle Überakkumulation bezeichnet werden kann (1). Ganzen Beitrag lesen »