Allgemein

Der Aufruf

03. Juni 2022  Allgemein

Liebe Freundinnen und Freunde,

vom 24.-26.Juni 2022 findet in Erfurt unser Parteitag statt. Vor dem Parteitag hat eine Gruppe von ParteimitgliederInnen und GewerkschafterInnen einen Aufruf „Für eine populäre Linke“ abgefasst. Dieser Aufruf wurde inzwischen von 80 ErstunterzeichnerInnen und über 4500 weiteren Personen unterstützt. In den Medien wurde der Aufruf vor allem mit Sahra Wagenknecht in Verbindung gebracht. Der Aufruf geht davon aus, dass die gesellschaftliche Ungleichheit zunimmt, auch wegen der Preissteigerungen und Mieterhöhungen. Der Krieg in der Ukraine trage zur Verschärfung der Lage bei und drohe zudem zu eskalieren und die Bundesrepublik zur Kriegspartei zu machen. Umso notwendiger sei eine Partei, die für den sozialen Ausgleich und Friedenspolitik stehe.
Die Autorinnen und Autoren des Aufrufs stellen allerdings fest, dass sich unsere Partei in einer existenziellen Krise befinde. Der Sichtweise ist zuzustimmen, wenn man sich die Wahlergebnisse im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfallen betrachtet. Auch schon bei der Bundestagswahl 2021 hatte Horst Kahrs von der Rosa-Luxemburg-Stiftung festgestellt, dass es die Linkspartei nicht mehr schaffe, ihre Stammwählerschaft an sich zu binden und flächendeckende Verluste erleide. Die größte Rolle bei der Wahlentscheidung spielten die Themen Umwelt, Klima und soziale Sicherheit. Bei all diesen Themen habe die Linkspartei Kompetenzverluste erlitten und selbst auch bei den Themen soziale Gerechtigkeit und Löhne sei sie nicht die erste Wahl. Die Linkspartei werde nicht mehr als Partei der „kleinen Leute“ wahrgenommen. Eine Wahlentscheidung setzt sich nach Horst Kahrs immer aus verschiedenen Bereichen zusammen, das heißt, die Linkspartei müsse auch auf verschiedene Sichtweisen eingehen. Insoweit ist den Autorinnen und Autoren des Aufrufs zuzustimmen, wenn sie fordern, dass die Linke sich nicht auf bestimmte Milieus verengen dürfe, sondern sie müsse gemeinsame Klasseninteressen herausarbeiten. Das Problem ist allerdings, dass eine fundierte Klassenanalyse häufig fehlt und dass auch soziale Themen längst kein Alleinstellungsmerkmal der Linkspartei mehr ist, seitdem SPD und Grüne von der Agenda 2010 und der neoliberalen Politik sich zu lösen beginnen. Es besteht die Gefahr, dass auch die Linkspartei im alltäglichen Verbesserungsanspruch stecken bleibt und keine moderne Sozialismuskonzeption zu bieten hat. Diese Gefahr besteht auch bei den Autorinnen und Autoren des Aufrufs. In den Ausbau des Sozialstaats und in mehr Bildung zu investieren, Demokratie zu stärken und sich für Frieden, Abrüstung und Entspannung einzusetzen kann immer nur der erste Schritt sein, der in eine antikapitalistische Programmatik einzubauen ist. Es muss gut begründet werden, dass Übergangsforderungen im Kapitalismus auf eine Systemgrenze stoßen. Es genügt deshalb nicht, nur eine neuen, demokratischen und ökologischen Sozialismus als Ziel anzugeben, wie das die Autorinnen und Autoren machen, ohne das Ziel näher mit dem alltäglichen Bewusstsein zu vermitteln. Nur durch das Aufzeigen der Notwendigkeit einer grundlegenden Systemveränderung kann ein wirklicher Kontrapunkt zu den etablierten Parteien geboten werden. Die Linkspartei hat in dieser Hinsicht auch eine Aufklärungsfunktion , als sie auch in der Tagespolitik grundlegende Strukturen der kapitalistischen Ordnung offenlegen muss, zum Beispiel die wichtige Erkenntnis, dass zwischen der Arbeitsleistung und dem Verkauf der Arbeitskraft der Lohnabhängigen zu unterscheiden ist. Nur so kann, auf eine nicht belehrende Weise, erklärt werden, warum die Einkommens- und Vermögensverhältnisse auseinanderlaufen, die soziale Unsicherheit zunimmt und ökonomische Krisen den Kapitalismus prägen. Auch dadurch kann die Linkspartei einen Kontrapunkt zu den etablierten Parteien setzen.
Klar ist, dass die Linkspartei als Friedenspartei wahrgenommen werden muss und nur durch einen internationalen Interessenausgleich und internationale Zusammenarbeit eine stabile Friedensordnung herstellbar ist, da ist den Autorinnen und Autoren des Aufrufs zuzustimmen. Waffenlieferungen an die Ukraine nützen zwar den Rüstungskonzernen, aber sie werden zu einer gefährlichen Eskalation des Konfliktes führen. Auch hier gilt es, den Zusammenhang von kapitalistischen Strukturen und der autoritär-kapitalistischen Struktur im aktuellen Russland einerseits und dem Ausbruch internationaler Konflikte andererseits aufzuzeigen. Auch hier muss eine alternative Sichtweise zu den etablierten Parteien sichtbar werden, wobei auch ein anderes Auftreten von Vertreterinnen und Vertretern der Linkspartei vonnöten ist. Das ist nicht unwichtig, wie zum Beispiel Thiers Gleiss meint. Auch wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Wahlentscheidungen mit den Personen zu tun haben, die eine politische Programmatik glaubwürdig darstellen können. Das ist nicht einfache Stellvertreterpolitik, wie Gleiss meint, sondern entspricht einer Gesellschaft, in der Medien einen überragenden Einfluss besitzen und auch unterschiedliche Identitäten besonders herausstellen. Wir müssen begreifen, dass es darauf ankommt, eine Klassenpolitik und Identitätspolitik zusammenzubringen, denn unser Klassengesellschaft ist inzwischen so differenziert, dass die Lohnabhängigen zum Teil Diskriminierungen erleben, die nur indirekt aus ihrer Stellung im Reproduktionsprozess ableitbar sind. Das nennt Bernd Riexinger mit Recht eine verbindende Klassenpolitik, die heute auf der Tagesordnung steht. Insoweit sollte der Aufruf von uns nicht einfach abgekanzelt werden, sondern als wichtiger Diskussionsbeitrag unserer Partei behandelt werden.

Es grüßt euch
Peter Behnen

Janine Wissler und die Linkspartei.

27. Mai 2022  Allgemein

DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

JANINE WISSLER UND DIE LINKSPARTEI (1).
Janine Wissler stellt sich die Frage, wie der Rückgang der Linkspartei in den letzten Wahlen aufgehalten werden kann. Sie stellt zu Beginn fest, dass die Partei ein solides Fundament habe, aktive Kreisverbände habe und in neun Landtagen vertreten sei. Außerdem sei sie Koalitionspartnerin in vier Landesregierungen. Es komme jetzt darauf an, wieder Themen zu finden, die die Partei nach vorne brächten. Der Schwerpunkt der Partei müsse allerdings weiter die soziale Gerechtigkeit sein.
Klar muss allerdings sein, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Sicherheit allgemein längst kein Alleinstellungsmerkmal der Linkspartei sind, sondern dass vor allem die SPD und auch die Grünen durch ihre Abkehr von der Politik der Agenda 2010 ihr politisches Terrain auch bei diesen Themen erweitert haben. Außerdem stellte Horst Kahrs in seiner Wahlanalyse der letzten Bundestagswahl (2) fest, dass selbst soziale Fragen und auch das Thema soziale Gerechtigkeit von der Partei in den Hintergrund gedrängt wurden. Bei allen Altersgruppen, Milieus und Kompetenzfeldern sei die Linkspartei von den meisten Wählerinnen und Wählern als bedeutungslos eingeschätzt worden. Im Gegensatz dazu gelang es der SPD und auch den Grünen die Themen Sozialstaat, Arbeitsmarkt, Friedenspolitik und ebenfalls Klimapolitik zu besetzen. Eine antikapitalistische Programmatik könnte einen wirklichen Kontrapunkt zu den etablierten Parteien bilden. Die müsste darin bestehen, den Zusammenhang von aktuellen Übergangsforderungen mit einem demokratischen Sozialismus aufzuzeigen und auch glaubhaft zu begründen. Das müsste mit Vertreterinnen und Vertretern der Partei geschehen, die von einem größeren Teil der Wahlbevölkerung akzeptiert und Vertrauen entgegengebracht wird. Wenn das nicht gelingt, besteht die Gefahr, dass die Partei im alltäglichen Verbesserungsanspruch stecken bleibt und/oder auf überholten Sozialismusvorstellungen des 20.Jahrhunderts zurückgreift. Einerseits ist es notwendig den Staatssozialismus, wie er sich im 20 Jahrhundert entwickelt hatte, zurückzuweisen und andererseits auf grundlegende Einsichten der Marxschen Theorie zurückzugehen. Das müsste sich in der Tagespolitik so auswirken, dass die Linkspartei grundlegende Strukturen der kapitalistischen Ordnung offenlegt und u.a. verdeutlicht wird, dass durch den Arbeitslohn nicht die Arbeitsleistung des Lohnabhängigen, sondern seine Arbeitskraft bezahlt wird. Diese Unterscheidung im allgemeinen Bewusstsein zu verankern ist sehr wichtig, weil sonst verschleiert wird, dass diese Gesellschaft auf der Aneignung des Mehrwertes bzw. der Mehrarbeit der Lohnabhängigen durch die Kapitaleigentümer beruht. Die Politik der etablierten Parteien, die versucht, diese Wirtschaftsordnung zu erhalten, wird deswegen immer wieder an die Grenzen der privaten Profitproduktion stoßen und es wird nicht gelingen, die allgemeinen Lebensverhältnisse auf Dauer zu stabilisieren geschweige denn zu verbessern. Die krisenhafte Entwicklung dieser Ordnung hat die Gesetzmäßigkeiten der privaten Profitproduktion zur Grundlage, diese Erkenntnis gilt es durch die Linkspartei zu verdeutlichen und eine wirkliche Alternative zur etablierten Politik zu entwickeln.
Von alledem liest man in dem Interview Janine Wisslers mit der TAZ leider gar nichts, auch sie droht in alltäglichen Verbesserungsvorschlägen, die natürlich auch wichtig sind, hängen zu bleiben. Zuzustimmen ist ihren Äußerungen zur Friedenspolitik und ihrer Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine. Sie befürchtet zu Recht, dass sich auf diese Weise die Eskalation des Konflikts verschärfen und die Nato zur Kriegspartei wird. Es muss der Illusion entgegengetreten werden, Aufrüstung und militärische Abschreckung könnten zu einem dauerhaften friedlichen Nebeneinander der Staaten führen. Leider fehlen bei Janine Wissler weitere Kritikpunkte an der Politik der Nato der letzten Jahrzehnte. Auch hier gilt es, den Zusammenhang von kapitalistischen Strukturen und vor allem der Struktur des autoritären Kapitalismus in Russland und dem Ausbruch internationaler Konflikte aufzuzeigen. Es kommt also darauf an, im Kapitalismus allgemein demokratische Strukturen zu stärken, um ein friedliches Nebeneinander von Staaten zu ermöglichen. Auch hier muss eine alternative Sichtweise zu der der etablierten Parteien sichtbar werden. Wenn diese Alternative für die Wählerinnen und Wähler auf dem ökonomischen, sozialen, ökologischen und friedenspolitischen Terrain nicht sichtbar wird, wird auch die Linkspartei nicht aus ihrem Tief herauskommen können. Allein ein anderes Auftreten der Vertreterinnen und Vertreter der Linkspartei, wie Janine Wissler meint, wird nicht ausreichen. sondern gefragt ist eine überzeugende Alternative zur etablierten Politik.
(1)Siehe TAZ-Interview mit Janine Wissler vom 20.5.22
(2) Siehe Horst Kahrs Wahlanalyse: Die Bundestagswahl und die Existenz der Linken vom 5.10.21

Hat die Linkspartei eine Zukunft?

18. Mai 2022  Allgemein

DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

HAT DIE LINKSPARTEI EINE ZUKUNFT?
Bei der Bundestagswahl 2021 konnte die Linkspartei nur deshalb in den Bundestag einziehen, weil sie trotz Verfehlen der 5-Prozent-Hürde drei Direktmandate erreichte. Bei den Wahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen 2022 gelang es nicht, die 5-Prozent-Hürde zu überspringen und in die entsprechenden Landtage einzuziehen. Es stellt sich deshalb für viele BetrachterInnen in und außerhalb der Partei die Frage, ob die Linkspartei nun in der Bedeutungslosigkeit versinkt? Richtig ist sicher, dass Wahlen und Ergebnisse der Linkspartei in den betreffenden Ländern getrennt zu betrachten sind, es ist aber notwendig, sich allgemeine Entwicklungen und Trends anzusehen, die u.a. Horst Kahrs vom der RL-Stiftung nach der Bundestagswahl 2021 dargestellt hat.(1)
Laut Horst Kahrs wurde nach der Bundestagswahl 2021 offensichtlich, dass es inzwischen für die Linkspartei um die Existenzfrage geht. Er stellt fest, dass die Stammwählerschaft der Linkspartei erodiert und nicht mehr ausreicht, die 5-Prozent-Hürde zu überspringen und die Partei flächendeckende Verluste einfährt. Sie habe versäumt, sich an gesellschaftliche und politische Veränderungen anzupassen. Die größte Rolle bei der Wahlentscheidung der WählerInnen der Linkspartei spielten die Bereiche Umwelt und Klima sowie soziale Sicherheit. Bemerkenswert sei, dass der Partei bei den Themen soziale Gerechtigkeit und Löhne einen Kompetenzverlust erlitten habe. Es gebe aber keinen wahlentscheidenden Bereich, sondern die Wahlentscheidung setzte sich immer aus verschiedenen Bereichen zusammen.
Horst Kahrs geht von einem widersprüchlichen Alltagsbewußtsein aus, wovon auch die Linkspartei stark betroffen sei. Kahrs hält sich da an empirische Beobachtungen. Allerdings wäre auf Basis der Marxschen Theorie damit zu beginnen, dass die „Alltagsreligion“, wie Marx es nennt, aufgrund der Struktur der warenproduzierenden Gesellschaft durch die Zirkulation das Bewusstsein von Freiheit und Gleichheit entsteht und das Bewusstsein der Aneignung der Mehrarbeit der Lohnabhängigen durch den Kapitalisten verdeckt wird. Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Arbeitslohn, der ihn als Gegenwert für die Arbeitsleistung des Lohnabhängigen und nicht als Bezahlung des Wertes der Arbeitskraft erscheinen lässt. Oberhalb dieser Grundstruktur erhebt sich ein Überbau an Bewusstseinsformen, der durch Tradition, persönliche Erfahrungen, Familienstrukturen, Religion etc. gekennzeichnet ist. Hier setzt auch Horst Kahrs mit seinen empirischen Beobachtungen an. Er stellt fest, dass bei vielen Wählerinnen und Wählern
1.das Bedürfnis nach einem Neustart besteht. Es soll sich etwas ändern verschärft durch die Pandemie und den Krieg in der Ukraine.
2. das Bedürfnis nach Stabilität der eigenen Lebensverhältnisse besteht.
3. das Bedürfnis nach Normalität gegeben ist, also einerseits Veränderung und andererseits wenig Eingriffe in eigene Lebensverhältnisse,
Horst Kahrs sieht keine dominierende Sichtweise im Alltagsbewußtsein der Wählerinnen und Wähler. Das heißt für die Linkspartei, dass sie auf verschiedene Sichtweisen auch eingehen müsse. Sie müsse ihre Positionen eindeutig und einheitlich vertreten, was lediglich beim Thema Arbeitslosigkeit passiert sei aber nicht mehr bei den Themen Umwelt, Klima und Migration. Das Thema soziale Gerechtigkeit sei sogar in den Hintergrund gerückt worden. Für die Wahlentscheidung sei wichtig, wie die Partei wahrgenommen werde, ob sie auf Veränderungen der Gesellschaft reagiere, ob und wie sie Probleme wahrnehme und welche Einflussmöglichkeiten ihr zugetraut werden. Die Reaktion der Partei hätte vor allem darin bestanden, den Neoliberalismus klar abzulehnen, bei der Eurokrise und Migration uneinheitlich reagiert zu haben und eine fruchtlose Diskussion über einen angeblichen Gegensatz von Klassenpolitik und Identitätspolitik geführt zu haben. Zur Bewegung „Fridays for Future“ sei nicht eindeutig Stellung bezogen worden. Wichtig für Horst Kahrs Beobachtungen war auch die Frage, ob die Linkspartei noch als Partei der „kleinen Leute“ wahrgenommen werde. Das sei bei den Wählerinnen und Wählern inzwischen nicht mehr der Fall. Sie gehe nicht mehr auf alle Konflikte auf der Konfliktachse ein, bei konkreten Fragen sei sie beherrscht durch feste ideologische Positionen. Es kämen dadurch bei den Wählerinnen und Wählern Zweifel auf, ob es notwendig und sinnvoll sei die Linkspartei zu wählen. Horst Kahrs sieht deswegen die Notwendigkeit, glaubwürdig und entschlossen aufzutreten, alle Konfliktfelder zu bearbeiten und die Positionen der Partei durch vertrauenswürdige Personen vertreten und begründen zu lassen. Die Begründung muss glaubwürdig vermitteln, dass die Politik der etablierten Parteien an Grenzen dieser Wirtschaftsordnung stoßen wird und eine Erhaltung und Verbesserung der Lebensverhältnisse nur durch eine alternative Politik der Linken möglich sein wird. Nur wenn das gelingt, wird die Linkspartei in Zukunft politischen Einfluss zurückgewinnen können.
(1)Siehe Horst Kahrs Wahlanalyse: Die Bundestagswahl und die Existenz der Linken vom 5.10.2021. Anzusehen in YouTube.

Hat die Linkspartei eine Zukunft?

18. Mai 2022  Allgemein

Probleme der Sanktionspolitik

18. Mai 2022  Allgemein

DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

PROBLEME EINER VERSCHÄRFTEN SANKTIONSPOLITIK GEGENÜBER RUSSLAND (1)
Im Zentrum der medialen Debatte stehen neben der Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine die Importe fossiler Energieträger aus Russland. Die Europäische Union (EU) bezieht täglich für 800 Millionen US-Dollar russisches Öl und Gas. Der größte Kunde ist die Bundesrepublik gefolgt von Italien. Die EU-Länder verhandeln inzwischen darüber, in welcher Weise es möglich ist, ein Ölembargo gegenüber Russland durchzuführen. Allerdings tat sich die EU bei diesem Vorhaben sehr schwer, weil bei Beschlüssen ein einstimmiges Votum notwendig war. Vor allem Ungarn und die Slowakei bremsten in dieser Frage, denn sie sind zwischen 75 und 100 Prozent von russischem Erdöl abhängig. Noch problematischer ist für die EU, wenn auch russische Gasimporte in die Sanktionspolitik einbezogen werden. Die Regierung Scholz versucht deswegen, den Anteil der russischen Gasimporte von 55 auf 35 Prozent zu senken. Wirtschaftsminister Habeck verkündete, bis 2024 solle der Anteil auf 10 Prozent gesenkt werden. Ob das realistisch ist, ist jedoch die große Frage. Einerseits laufen viele Verträge der deutschen Gasimporteure nicht vor 2030 aus und andererseits ist es volkswirtschaftlich riskant, schnell aus den russischen Gasimporten auszusteigen, da sich dieser Import nicht ohne weiteres schnell ersetzen lässt. Es kommt hinzu, dass auch die Verbraucher nicht so schnell auf einen anderen Energieträger wechseln können.
Der russische Staatskonzern Gazprom hat aktuell seine Gaslieferung an Polen und Bulgarien eingestellt und außerdem stoppt die Ukraine den Transit russischen Öls über die Sojus-Pipeline. Dadurch wird augenblicklich aber keine Bedrohung der europäischen Versorgung ausgelöst. Allerdings verrät ein Blick auf die Struktur des russischen Exports, dass Russland von dem Export seiner Öl- und Gasmengen sehr stark abhängig ist. Russlands Aufbau des Kapitalismus nach der Zeit des „realen Sozialismus“ hat gezeigt, dass dieser Aufbau mit einer sehr starken Extraktion von Rohstoffen verbunden war, Rohstoffe die weitgehend für den Export bestimmt waren. Parallel dazu wurde ein autoritäres politisches System mit besonderem Gewicht weniger Oligarchen aufgebaut, was verbunden war mit extremer sozialer Ungleichheit und weitgehender Rechtlosigkeit der Lohnabhängigen. Die Unternehmen, die international tätig sind, sind in der Regel Rohstoffkonzerne in privater Hand.
Die Politik der EU geht nun in die Richtung, die Geldtransfers nach Russland zu stoppen, um die russische Politik im Ukraine-Krieg zum Einlenken zu zwingen. Das scheint deshalb erfolgversprechend, weil 60 Prozent der russischen Ölexporte in die EU gehen. Die Sanktionspolitik der EU schädigt somit den Staatshaushalt Russlands, hält sich aber doch in Grenzen, weil die russische Politik sich vom Petrodollar unabhängig machen will. Außerdem stellt das Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche fest, dass der kriegsbedingte Rückgang der Wirtschaftsleistung Russlands 2022 nur 9 Prozent betragen wird. Da der Erdölmarkt angespannt ist und der Erdölpreis in die Höhe getrieben wird, hat ein Ölembargo gegen Russland nur begrenzte Wirkung, zumal die Einnahmen aus dem Ölgeschäft wegen der Preisentwicklung eher steigen werden. Außerdem sucht Russland nach Auswegen und versucht, Verluste in der EU durch Exporte nach Asien, vor allem Indien und China, zu kompensieren. Zu bedenken ist auch, dass ein Ölembargo nach Aussage von Robert Habeck auch uns selbst schaden wird. Das ergibt sich vor allem durch die Steigerung der Energiepreise und ein weiteres Antreiben inflationärer Tendenzen in verschiedenen Wirtschaftsbereichen. Das wird, wie immer, zu Lasten einkommensschwächerer Haushalte gehen, was nach letzten Umfragen inzwischen von vielen Haushalten als größeres Problem notiert wird als die eigentlichen Kriegshandlungen in der Ukraine. Der Wirtschaftskrieg könnte zwar die Umstellung der Energieversorgung auf regenerative Energien befördern, das ist allerdings ein langfristiger und kein kurzfristiger Prozess. Die Ablösung fossiler Stoffe durch Energieformen, die weniger Treibhausgase freisetzen, wäre zudem eine Aufgabe von gigantischer Größenordnung. Ein Gasboykott wäre aber laut Habeck in diesem Jahr verkraftbar, wenn wir zum Jahresende volle Speicher hätten und deutlich an Energie gespart würde. Die Reaktion der russischen Politik besteht u.a. darin, dass Russland die Firma Gaz-prom Germania und andere Tochterunternehmen sanktioniert und Gaslieferungen stoppt. Der Stopp von Gaslieferungen schlägt jedoch besonders durch bei den Ländern, die besonders abhängig von russischem Erdgas sind, zum Beispiel Estland, Finnland, Lettland, Slowakei, Österreich und Ungarn.
(1)Die Grundlage des Aufsatzes ist ein Aufsatz der Redaktion Sozialismus in Sozialismus aktuell vom 12.5.22

Weiterer Absturz oder Erneuerung der Partei?

30. März 2022  Allgemein

DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

WEITERER ABSTURZ ODER ERNEUERUNG DER PARTEI? (1)
Die Wahlen im Saarland haben zu einem haushohen Wahlsieg der SPD, einem beispiellosen Einbruch der CDU und zu einer Pulverisierung der Linkspartei geführt. Auf die Linkspartei bezogen ist das das vorläufige Ende einer langen Kette von Wahlverlusten. Von Brandenburg über Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Berlin und jetzt dem Saarland verlor die Linkspartei zwischen 7,8 und 10,3 Prozent ihrer WählerInnenstimmen. Sie zog im letzten Jahr auch nur deshalb in den Bundestag ein, weil sie trotz des Reißens der 5-Prozent-Hürde drei Direktmandate erhielt.
Die Frage, die angesichts dieser desaströsen Entwicklung gestellt werden muss, besteht darin, auf welche Weise diese Entwicklung gestoppt werden kann? Festzuhalten ist erst einmal, dass bei der Wahl im Saarland die Linkspartei bei allen Altersgruppen, Milieus und Kompetenzfeldern als bedeutungslos eingeschätzt wurde und selbst bei ihrer eigentlichen Kompetenz, Arbeitsplätze und soziale Gerechtigkeit, nur sehr geringe Zustimmungswerte aufzuweisen hatte. Im Gegensatz dazu gelang es der SPD die Themen, Sozialstaat, Arbeitsmarkt, Friedenspolitik und auch Klimapolitik zu besetzen. Dass das so ist, kann nicht nur auf den Austritt Oskar Lafontaines aus der Partei erklärt und auch nicht auf die Zwistigkeiten in der Linkspartei des Saarlandes zurückgeführt werden. Einige Hinweise auf die Probleme der Partei haben Lafontaine mit seinem Austritt und auch Bernd Riexinger nach der Bundestagswahl gegeben. Lafontaine kritisiert die schleichende Änderung des politischen Profils der Partei, das heißt, einen Verlust der politisch-programmatischen Ausrichtung im Hinblick auf eine sozialistische Transformation der Gesellschaft. Die Linkspartei hatte sich gebildet als Reaktion auf die Lohndrückerei und den Sozialabbau der Agenda 2010 der damaligen Regierung Schröder. Es wurde eine antikapitalistische Programmatik entwickelt und sie setzte sich zu allererst für einen gesetzlichen Mindestlohn, eine armutsfeste Rente und eine Abschaffung des Hartz 4-Systems ein. Außenpolitisch wurde konsequent auf Friedenspolitik orientiert. Die Übergangsforderungen wurden in eine antikapitalistische Programmatik eingebettet als Antwort auf den finanzgetriebenen Kapitalismus. Das war eine klare Alternative zur damalige Regierung Schröder, die es nicht wagte, gegen die Finanzmärkte Politik zu machen. Nicht nur Lafontaine, sondern auch andere Teile der Partei beklagen den Verlust eines entschieden sozialistischen Profils. Die Zeitschrift Sozialismus formuliert das folgendermaßen: „Die Partei Die Linke hat es versäumt, die Debatte über Kernfragen, zum Beispiel über den Zusammenhang von Übergangsforderungen mit der solidarischen Ökonomie, voranzubringen. Es besteht die Gefahr, entweder im alltäglichen Verbesserungsanspruch stecken zu bleiben oder unkritisch auf überholte Sozialismusvorstellungen des 20.Jahrhunderts zurückzugreifen.“ (2) Wichtig wäre eine massive Kritik des sogenannten Staatssozialismus und seiner Doktrin des Marxismus-Leninismus und ein Rückgang auf grundlegende Einsichten der Marxschen Theorie. Dazu dient auch ein Ausbau der politischen Bildungsarbeit in der Partei, die, aus meiner Sicht, immer noch als Stiefkind behandelt wird. Klar muss sein, dass Fragen der sozialen Sicherheit kein Alleinstellungsmerkmal der Partei Die Linke mehr sind, sondern dass vor allem die SPD und die Grünen durch ihre Neuorientierung und Abwendung von der Agenda 2010 ihr politisches Terrain erweitern konnten. Es muss deswegen die Aufgabe der Partei Die Linke sein, den Zusammenhang von sozialen Fragen, Klimafragen und auch der Friedenssicherung mit einer grundlegenden Änderung der kapitalistischen Ordnung aufzuzeigen. Wir können davon ausgehen, dass die Revitalisierung der SPD und der Grünen begrenzt bleiben wird, insbesondere auch im Zusammenhang mit der Regierungspolitik der Ampel. Eine Revitalisierung unserer Partei wird allerdings nur gelingen, wenn sie nicht als zerstritten und konzeptionslos wahrgenommen wird sondern versucht, Übergangsforderungen mit einer sozialistischen Perspektive zu verbinden und das auch glaubwürdig darstellt. Dazu gehört auch, die Identitätspolitik mit einer verbindenden Klassenpolitik zusammenzubringen und herauszustellen, dass die Lohnabhängigen heute sehr stark differenziert sind und zum Teil Diskriminierungen erleben, die nur indirekt mit ihrer Stellung im Arbeitsleben zu tun haben. Das bedeutet, dass Klassenpolitik und Identitätspolitik keine Gegensätze sein dürfen, sondern beides durch die Linkspartei glaubwürdig miteinander verbunden werden muss. Zum Schluss muss es auch zur linken Politik gehören, gerade angesichts der russischen Aggression in der Ukraine, sich konsequent für eine Friedenspolitik einzusetzen. Eine Zustimmung zu einem Aufrüstungsprogramm in Europa ist strikt zu bekämpfen und der Illusion entgegenzutreten, eine militärische Abschreckung könne zu einem dauerhaften friedlichen Nebeneinander der Staaten führen. (1)Der Aufsatz basiert auf Aufsätzen der Zeitschrift Sozialismus, insbesondere auf Artikeln von Sozialismus aktuell vom 27/10/22, 18/3/22 und 28/3/22.
(2) Siehe Sozialismus Archiv vom 18.3.22

Die Linke und der russische Aggressionskrieg

02. März 2022  Allgemein

DR. PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

DIE LINKE UND DER RUSSISCHE AGGRESSIONSKRIEG.

Im Jahre 2014 gab es einen Appell von mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien, die eine neue Entspannungspolitik einforderten. Zu ihnen gehörten u.a. Roman Herzog, Antje Vollmer, Wim Wenders und Mario Adorf. Heute haben wir wieder einen Krieg in der Ukraine, betrieben durch eine imperiale Politik russischer Eliten. Die Ablehnung und Empörung über diese Politik sind in den Parteien und Medien zu Recht einhellig. Auch der Vorstand unserer Partei hat sich unmissverständlich geäußert. Er sagt Nein zum Krieg und Bruch des Völkerrechts durch die russische Politik und Ja zu einer sofortigen Beendigung der Kampfhandlungen, zur Deeskalation und umfassenden Abrüstung. Er stellt zu Recht fest, dass ein Kampf um geopolitische Einflußsphären seit Jahren auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen wird. Deswegen fordert der Parteivorstand:
1.Die Anerkennung der Souveränität und Grenzen der Ukraine durch Russland.
2.Den Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine
3.Ein Zurück zum völkerrechtlich verbindlichen Minsker Abkommen
4.Den Aufbau einer militärfreien Sicherheitszone an der russisch-ukrainischen Grenze
5.Keine Osterweiterung der Nato und Waffenlieferungen in Krisengebiete, d.h. auch nicht in die Ukraine. Waffenlieferungen in die Ukraine, die die Bundesregierung nun ins Auge gefasst hat, sind ohne Perspektive und hat verheerende Folgen für die Ukraine angesichts der Übermacht der russischen Armee.
Was allerdings in der Erklärung unseres Parteivorstandes ganz fehlt, und was die Aufgabe der Partei Die Linke wäre, wäre genau die historischen Knotenpunkte der Entwicklung hin zu Krieg zu benennen, und vor allem auch die Darstellung der Elemente des autoritären Kapitalismus in Russland, die immer zur außenpolitischen Aggression und Krieg führen können. Die historischen Knotenpunkte sind die Punkte, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion und ihres Staatensystems im Jahre 1990 entwickelt haben.
1.Der 2+4- Vertrag von 1990
Durch diesen Vertrag wurde mit der Zustimmung der vier Alliierten (USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien) und den beiden deutschen Staaten die Einheit Deutschlands wiederhergestellt. Sie kam aber, nach Aussage vieler Teilnehmer des Prozesses, nur deswegen zustande, weil eine Nichterweiterung der Nato nach Osteuropa versprochen wurde. Lediglich die neue Bundesrepublik sollte ein Mitglied der Nato werden.
2.Die Nato-Russland Grundakte von 1997.
Der wesentliche Kern der Grundakte besteht darin, dass die Nato und Russland eine enge Kooperation und Abrüstung konventioneller und atomarer Waffen verabredeten. Außerdem wiederholte die Nato, dass sie die kollektive Sicherheit auch dadurch gewährleisten will, dass sie die kollektive Verteidigung „eher dadurch wahrnimmt, dass sie die erforderliche Interoperabilität, Integration und Fähigkeit zur Verstärkung gewährleistet, als dass sie zusätzlich substantielle Kampftruppen dauerhaft stationiert.“ Das wurde allgemein so verstanden, dass man sich bei der Stationierung der Nato in Osteuropa zurückhalten wolle, ohne neue Stationierungen grundsätzlich auszuschließen. Fakt war allerdings alsbald, dass die Nato 14 Staaten in Ost- und Südosteuropa in die Organisation aufnahm und damit ihren geopolitischen Einflussbereich erheblich ausbauen konnte.
3.Das Minsker Abkommen von 2015
Das Minsker Abkommen von 2015 muss als ein Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Krise und des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine angesehen werden. Es enthält 13 Punkte, die zur Beendigung des Bürgerkrieges in der Ostukraine führen sollten. Es sollten ein Waffenstillstand, eine Autonomielösung für die prorussischen Teile des Donbass und direkte Gespräche zwischen den prorussischen Separatisten und der ukrainischen Regierung stattfinden. Außerdem sollte die Wiedereingliederung der abtrünnigen Provinzen in das ukrainische Staatsgebiet und Wahlen in den Provinzen abgehalten werden. Das alles geschah im Rahmen einer massiven militärischen Überlegenheit Russlands gegenüber der Ukraine und dem Versuch der russischen Politik, über eine Autonomie der Provinzen einen weiteren Einfluss auf die ukrainische Politik zu erlangen.
Es zeigte sich jedoch bald, dass das Minsker Abkommen, das unter russischem Druck zustande gekommen war, von der politischen Klasse der Ukraine nicht umgesetzt werden würde. Es wurde deutlich, dass sich seit dem Frühjahr 2015 bei der Umsetzung kaum etwas bewegte und die ukrainische Führung die Autonomie der Provinzen unter den Minsker Bedingungen verzögern wollte. Es konnte auch keine Waffenruhe in der Ostukraine erreicht werden. Die Blockade des Abkommens führte zu einem Stellungskrieg, der sieben Jahre dauerte und, weil der Bürgerkrieg in der Ostukraine weitergeführt wurde, ca.14000 Tote forderte. Am 15. Februar 2022 forderte die russische Duma Wladimir Putin auf, die inzwischen selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk anzuerkennen. Nach der Anerkennung und der Aufkündigung des Minsker Abkommens kündigte Putin die sogenannte „Spezialoperation im Donbass“ an, was auch eine Kriegserklärung an die gesamte Ukraine bedeutete.
Warum die russische Regierung unter Putin inzwischen eine imperiale Politik betreibt, lässt sich letztlich nur erklären, wenn man sich die gesellschaftlichen Strukturen Russlands anschaut, die sich seit dem Niedergang der Sowjetunion und ihres Staatensystems ab 1990 entwickelt haben. (1) Zuerst sollte in der Ära Gorbatschow versucht werden, eine Veränderung des Sozialismus unter den Aspekten Glasnost und Perestroika zu erreichen, also transparente demokratische Veränderungen. Es setzten sich allerdings Wirtschaftsreformer durch, die eine radikale Veränderung hin zur Marktwirtschaft auf ihre Fahne geschrieben hatten. Sie erachteten eine weitgehende Entstaatlichung der Wirtschaft, die Aufgabe von Preiskontrollen sowie eine Liberalisierung des Außenhandels für zentral. Dieses Vorhaben sollte in einem 500-Tage-Programm verwirklicht werden. Heraus kam eine Ablösung Michail Gorbatschows durch Boris Jelzin, der Gorbatschow vorwarf, die Reformen nur halbherzig umzusetzen. Unter Jelzin erfolgte dann zwischen 1992-94 durch eine Schocktherapie die Einführung des Kapitalismus in Russland. Schocktherapie bedeutete alle gesellschaftlichen Bereiche ungeschützt den Marktgesetzen zu überlassen. Diese Schocktherapie stürzte die russische Gesellschaft innerhalb weniger Jahre in eine soziale Katastrophe. Es verarmte ein Drittel der russischen Bevölkerung als direkte Folge der unkontrollierten Privatisierung der Wirtschaft. Auf der anderen Seite nutzten ehemalige hohe Parteifunktionäre, Beamte und Wirtschaftsführer die Gelegenheit sich illegal zu bereichern. Im Zusammenhang mit der schnellen Eingliederung Russlands in den Weltmarkt bildete sich im russischen Transformationsprozess eine nationale Unternehmerschaft heraus, die auch als Oligarchie bezeichnet wurde. Die ökonomische Basis der Oligarchen bestand vor allem in dem Export von Rohstoffen, zum Beispiel Erdöl, Erdgas, Aluminium und Energie. Die Herausbildung einer nationalen Unternehmerschaft ermöglichte der russischen Regierung ab etwa der Jahrtausendwende ein autoritär-kapitalistische Entwicklung unter Einbeziehung der Oligarchen zu vollziehen. Es entstand eine Abhängigkeit von den Oligarchen insbesondere durch die Übernahme staatlicher Aktienpakete durch private Banken zwecks Haushaltfinanzierung des Staates (AKS-Finanzierung). Durch die AKS-Finanzierung schaffte der russische Staat eine Klasse von Vermögensbesitzern, den besagten Oligarchen. Es entwickelte sich eine Herrschaftselite, bei der Oligarchen, Politiker und hohe Beamte auf das Engste miteinander verbunden sind.
Im Jahre 1997/98 gerieten verschiedene ostasiatische Länder in eine tiefe Wirtschaftskrise. Das verlangsamte Wachstum in der Region traf die russische Wirtschaft aufgrund ihrer einseitigen Ausrichtung auf den Rohstoffexport schwer. Dennoch war die Wirtschaftskrise, die jetzt auch Russland traf, nicht primär auf die Asienkrise zurückzuführen, sondern auf die neoliberale Wirtschaftspolitik, die die Privatisierung des Staatseigentums und die Deregulierung der Finanzmärkte mit einschloss. Dazu gehörte auch eine Vernachlässigung der Weiterentwicklung des realen Sektors und der massive Abbau staatlicher Regulierung des Wirtschaftslebens. Die Krise erbrachte nun einen Wendepunkt in dem Verhältnis von Staat und Wirtschaft und den Beginn der Herrschaft Wladimir Putins. Es kam zu einem neuen Kompromiss zwischen der Regierung und den Oligarchen, der Staat übernahm nun eine aktivere Rolle in der Organisation der Wirtschaft. Das heißt allerdings nicht, dass er seine Rolle als Lobbyist für nationale Unternehmen aufgab. Putin machte deutlich, dass er die Einkommens- und Vermögensverhältnisse unangetastet lasse, solange die Regierung die Loyalität der Oligarchen erhalte. Die autoritäre Form des Kapitalismus wurde ausgebaut, der staatliche Gewalt- und Überwachungsapparat verstärkt und oppositionelle Aktivitäten massiv bekämpft. Eine Militarisierung der russischen Innen- und Außenpolitik mit dem Angriff auf die Ukraine als bisheriger Höhepunkt sind die logische Folge dieser Politik.
In der wissenschaftlichen Diskussion wird, wenn von der russischen Gesellschaft die Rede ist, auch vom „crony capitalism“ geredet, ein Kapitalismus also, der eine starke Verbindung von Staat und Oligarchen aufweist. Allerdings ist es bisher gelungen, dieses System zu stabilisieren und trotz hoher Aufwendungen für Rüstung und einem repressiven Staatsapparat die öffentlichen Haushalte stabil zu halten. Bei einem Ölpreis von ca. 50 US-Dollar wurden sogar beträchtlichen Reserven gebildet. Dieses finanzielle Gleichgewicht machte Russland bisher nur begrenzt anfällig für eine Krise aufgrund der westlichen Sanktionspolitik. Auch der Ausschluss aus dem Swiftsystem ist nur ein Machtmittel des Westens auf Zeit und würde das Bestreben Russlands, aus dem Dollar auszusteigen, befördern.
Welche Schlussfolgerungen sollten aus dem bisher Gesagten vonseiten der Staaten des demokratischen Kapitalismus gezogen werden?
1.Wichtig ist die Einschätzung, dass der Überfall auf die Ukraine für die Regierung Putin und seine Oligarchen möglicherweise eine strategische Fehlkalkulation darstellt, denn es ist auch für Russland mit einem verlustreichen Krieg und einem möglicherweisen Umschwung in der Stimmung der russischen Bevölkerung zu rechnen.
2.Die russische Militärmaschinerie durch die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Kriegsgerät zu stoppen wird wenig erfolgreich sein sondern den Krieg verlängern. Auch die Aufrüstung der Bundesrepublik mit 100 Mrd. Euro wird nicht zur Lösung des Konflikts beitragen.
3.Auch die Einschränkungen im Energiehandel haben begrenzte Wirkungen und sind ein zweischneidiges Schwert, weil rund die Hälfte aller Erdölimporte und 90 Prozent des Erdgases Europas aus Russland kommen.
4.Es muss alles getan werden, um die Bevölkerung in der Ukraine vor wirtschaftlicher Not und den Folgen von Flucht und Vertreibung materiell und finanziell zu unterstützen.
5.Es müssen alle diplomatischen Möglichkeiten genutzt werden, zu einem Ende der Kriegshandlungen zu kommen. Es wird nach dem Ende der aktuellen Kriegshandlungen darauf ankommen, einen neuen Übergang zu gemeinsamer Sicherheit und Kooperation zu finden. Inwieweit das gelingt, wird stark davon abhängen, wie stark die internationalen Beziehungen und die zivile Ordnung beschädigt worden sind. Es wird dann auch nicht ohne tiefgreifende Reformen in den internationalen Organisationen abgehen und es wird auch über die „Rolle der Volksrepublik China auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung …ebenfalls zu reden sein.“ (2)

(1) Siehe zum Folgenden: Felix Jaitner, Einführung des Kapitalismus in Russland, VSA-Verlag, Hamburg 2014.
(2) Siehe Bischoff/Siebecke: Was folgt auf Putins Krieg? Sozialismus aktuell vom 27.2.22

Klassenpolitik versus Identitätspolitik ?

17. Januar 2022  Allgemein

Dr. Peter Behnen
Die Linke Freiburg

Klassenpolitik versus Identitätspolitik?

Die Klassenanalyse entlang der unterschiedlichen Klassen der bürgerlichen Gesellschaft führt dazu, dass gezeigt wird, dass die Mitglieder der verschiedenen Klassenabteilungen ganz unterschiedlichen Erscheinungsformen des Kapitalismus aufsitzen und entsprechende Illusionen über die Entwicklungsfähigkeit des Kapitalismus entwickeln können. Es kommt hinzu, dass die Bewusstseinsformen, die sich aus ihrer Stellung im Reproduktionsprozess ergeben, durch private Vermögensbildung, Familie, Freizeit und Traditionen modifiziert werden können. In diesem Zusammenhang entstanden Bewegungen, die für die Anerkennung vielfältiger Identitäten eintreten, häufig auch als „progressiver Neoliberalismus“ bezeichnet. Als Ziel wird ein Miteinander propagiert, befreit von patriarchalem, sexistischem, rassistischem und umweltfeindlichem Verhalten. Der Begriff Identitätspolitik hat seinen Ursprung in der krassen Benachteiligung der schwarzen Bevölkerung in den USA. Er fand internationale Verbreitung durch den Kampf gegen Diskriminierung verschiedenster Art. Viele soziologische Untersuchungen zeigen inzwischen, dass auch die Lohnabhängigen heute alles andere als homogen leben, also ganz unterschiedliche Lebensstile haben. Anders als früher können sich heute viele Lohnabhängige mehr leisten und können dadurch verschiedene Lebensstile entwickeln. Auch Industriearbeiter, prekär Beschäftigte oder Arbeitslose können Diskriminierungen erfahren, die nicht direkt mit ihrem Status im Reproduktionsprozess zu tun haben. Das heißt, linke Politik hat sensibel auf Diskriminierungen zu reagieren, soziale und ökologische Ziele sollten nicht in einen Gegensatz zu Abstammung, Religion, Geschlechtszugehörigkeit, sexueller Orientierung etc. gebracht werden. Individualität in einen Gegensatz zu solidarischem Handeln zu stellen führt in eine Sackgasse. Daher sollte gelten: Wenn linke Politik erfolgreich sein will, müssen Klassenpolitik und Identitätspolitik zusammengebracht werden.

Mehr Fortschritt wagen aber für wen?

02. Januar 2022  Allgemein

vv
DR. PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG

DAS MOTTO DER AMPELKOALITION: MEHR FORTSCHRITT WAGEN.

Die neue Bundesregierung hat angekündigt, mehr Fortschritt wagen zu wollen. Die Frage muss allerdings sein, ob es bei der Ankündigung bleiben wird oder eine reale Politik des Fortschritts folgen wird? Zur Beantwortung der Frage ist es notwendig, die ökonomisch-sozialen Rahmenbedingungen unter die Lupe zu nehmen (1).
Die deutsche Volkswirtschaft ist seit 2020 in eine tiefe Krise geraten. Bereits im Jahre 2019 hatte sich im Rahmen des normalen Konjunkturzyklus eine Abschwächung der Wirtschaftstätigkeit angekündigt. Seit 2020 wurde der Konjunkturzyklus allerdings durch die Corona-Pandemie überlagert und führte dazu, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 4,6 % preisbereinigt sank. Als Reaktion auf den Einbruch in der Wirtschaftstätigkeit, verstärkt durch die Corona-Pandemie, wurden in den meisten kapitalistischen Ländern massive staatliche Ausgabenprogramme aufgelegt, finanziert durch eine gewaltige Verschuldung. Im April 2020 schätzte der Internationale Währungsfonds (IWF), dass sich international die finanziellen Ausgaben auf 8 Billionen Dollar beliefen, im Januar 2021 aber bereits schon auf 14 Billionen Dollar. Es hat sich deutlich gezeigt, dass die Funktionsfähigkeit des Kapitalismus von Interventionen des Staates abhängig ist und auch die Innovationen im Kapitalismus sich im Wesentlichen durch staatliche Eingriffe vollziehen.
Wenn die neue Bundesregierung mehr gesellschaftlichen Fortschritt will, dann wird es um eine sozialökologische Transformation und eine Digitalisierung in allen gesellschaftlichen Bereichen gehen. Hinzu kommt, dass die enormen Schäden, die die Pandemie mit sich gebracht hat und immer noch bringt durch einen massiven Einsatz öffentlicher Mittel zu bekämpfen sind. Das Schlüsselproblem wird in Zukunft die staatliche Finanzierung sein. Andererseits sind Steuern auf große Vermögen und Steuererhöhungen auf hohe Einkommen durch die FDP von Anfang an ausgeschlossen worden. Es sollen zwar bestimmte soziale Schieflagen von der Koalition angegangen werden, zum Beispiel Lohneinkommen, der Wohnungsmangel, die Kinderarmut und die Migration, aber eine Veränderung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse ist nicht geplant. Eine Umverteilung, die von der SPD und den Grünen im Wahlkampf versprochen wurde, wird nicht stattfinden. Wie unter diesen Voraussetzungen eine sozialökologische Transformation, eine Digitalisierung aller Lebensbereiche und eine Bekämpfung der Pandemie funktionieren soll bleibt das Geheimnis der Koalitionäre. Es herrscht das Prinzip Hoffnung. Dass auf mittlere Sicht das Wirtschaftswachstum wieder abflachen könnte, wird nicht einmal angedacht. Das ist die Konsequenz der Tatsache, dass die Koalitionäre kein Bewusstsein von den ökonomischen Gesetzen des Kapitalismus und ihren Folgen haben. Ohne Umschichtung bei Vermögen und Einkommen werden viele Projekte der neuen Regierung im Sande verlaufen und der proklamierte Fortschritt eine Ankündigung bleiben. Aber auch von der CDU und ihrem neuen Vorsitzenden Merz werden keine progressiven Alternativen zu erwarten sein, weil an eine radikale Abwendung von ihrer neoliberalen Grundauffassung nicht zu denken ist. Es bleibt Aufgabe der Linkspartei aus ihrer krachenden Wahlniederlage einen organisatorisch-programmatischen Aufbruch zu vollziehen, der auch einen Großteil der Wahlbevölkerung überzeugt.
(1)Siehe dazu: Sozialismus Heft 1/2022 Seite 6/7.

Wohin treibt die CDU?

22. Dezember 2021  Allgemein

Dr. Peter Behnen
Die Linke Freiburg

WOHIN TREIBT DIE CDU?
Mit deutlichem Vorsprung ist Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden nominiert worden. In einem Interview mit der Badischen Zeitung vom 1.12.21 wurde er nach seiner politischen Position befragt und in welche Richtung sich die CDU entwickeln solle. Merz strebt einen Erneuerungsprozess seiner Partei an und will neue Antworten zur Klimapolitik, Chancengerechtigkeit, Integrationsfähigkeit von Menschen und zur Wettbewerbsordnung finden. Da die CDU wertkonservative, liberale und soziale Wurzeln habe, wolle er seiner Partei dieses Profil zurückgeben. Was allerdings die neuen Antworten sein sollen angesichts der Zerrissenheit der Partei und den teilweise ganz unterschiedlichen Ansätzen der angesprochenen Wurzeln bleibt völlig im Dunkeln. Klar ist, dass eine Erneuerung der CDU Deutschlands unter Berücksichtigung der erodierenden gesellschaftlich-kulturellen Basis, dass heißt der religiös- ideologischen Umorientierung größerer Bevölkerungsteile, kein leichtes Unterfangen sein wird. Außerdem sind die christlich-fundierten Parteien in Europa in ein nationales und teilweise nationalistisches Fahrwasser eingetaucht. Merz will gegen den Rechtspopulismus vorgehen und die soziale Frage stärker in den Blick nehmen. Seine langjährige Allianz mit dem Finanzkapital, er war Aufsichtsratsvorsitzender des Finanzkonzerns Black Rock, wird nicht zu seiner Glaubwürdigkeit beitragen. Es bleibt abzuwarten, ob unter seiner Ägide sich die CDU aus den Fängen des Finanzkapitals befreien kann. Große Skepsis ist da sicherlich angebracht