DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
SONDIERUNG OHNE KENNTNIS KAPITALISTISCHER STRUKTURZUSAMMENHÄNGE.
Die SPD, die Grünen und die FDP haben sich auf ein Sondierungspapier geeinigt. Mit dem zwölfseitigen Papier soll es nun in die Koalitionsverhandlungen gehen. Das Papier liest sich wie ein Wunschzettel, bei dem die beteiligten Parteien versucht haben, mehr oder weniger ihre Präferenzen durchzusetzen. Der Schwerpunkte des Papiers sind die Themen Klimaschutz, Digitalisierung, Verkehr, Arbeit und Soziales, Alterssicherung, Außenpolitik und Finanzen. Der SPD ist es gelungen, dass die Erhöhung des Mindestlohnes auf 12 Euro akzeptiert wurde, dafür hat die FDP durchgesetzt, dass die Mini- und Midi Jobs flexibilisiert werden. Auch wird im Sinne der FDP die Vermögenssteuer nicht erhoben, ebenso wie es eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes für Superreiche nicht geben wird. Die Rente mit 67 wird bleiben und ebenso das Rentenniveau bei 48 Prozent. Der Einstieg in die Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung scheint beschlossenen Sache zu sein. Das Hartz 4 soll in Zukunft Bürgergeld heißen, ob das nur eine andere Bezeichnung für Hartz 4 ist oder auch mit einer Verschlechterung der Lebensbedingungen der Betroffenen verbunden ist bleibt abzuwarten. Dem Wunsch der FDP entsprechend, sollen die Empfänger und Empfängerinnen des Bürgergeldes mehr Zuverdienstmöglichkeiten erhalten, das spricht nicht für eine Höhe des Bürgergeldes, das zum Leben reicht. Beim Thema Klimaschutz ist die Lage kompliziert. Aus der Forderung der Grünen, ein Tempolimit auf Autobahnen durchzuführen wird nichts werden. Dafür kommt das vage Versprechen, einen beschleunigten Ausstieg aus der Kohleverstromung zu erreichen und durch einen beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien den steigenden Strom- und Energiebedarf zu decken. Durch die Verpflichtung bei gewerblichen und Förderung bei privaten Neubauten Solaranlagen auf die Dächer zu setzen, könne auch ein Konjunkturprogramm für Mittelstand und Handwerk abgeleitet werden. Beim Thema Pflege und Gesundheit wird eine Offensive für mehr Personal angekündigt, die Finanzierung durch eine Bürgerversicherung ist allerdings vom Tisch. Kompromisse gibt es beim Thema Wohnen, 400000 neue Wohnungen sollen pro Jahr entstehen, 100000 davon öffentlich gefördert. Von einer Deckelung der Mieten ist allerdings nicht die Rede. Der zukünftige Bundeskanzler Scholz erklärte zum Schluss, durch die neue Regierung werde das größte Modernisierungsprojekt seit über 100 Jahren eingeleitet.
Scholz muss aber zugeben, dass der der konkrete Finanzbedarf nicht Gegenstand der Gespräche gewesen sei. Er und auch Robert Habeck konnten nicht erklären, wie die gewaltigen Investitionen bei dem Verzicht auf Steuererhebung bzw. Steuererhöhungen bei Vermögen und hohen Einkommen und Beibehaltung der Schuldenbremse finanziert werden sollen. Es ist zu sehen, inwieweit die Vorschläge der Sondiererinnen und Sondierer, die quasi im ökonomischen Vakuum gemacht wurden, mit kurz- und langfristigen Tendenzen des Kapitalismus kollidieren werden.
Das DIW Berlin, das Ifo-Institut München, das IFW Kiel, das IWH Halle und das RWI Essen haben gerade eine Gemeinschaftsdiagnose veröffentlicht, in der sie den Anstieg des Bruttoinlandsprodukts auf 2,4% in diesem Jahr nach unten korrigierten und feststellten, dass die wirtschaftliche Lage weiterhin durch die Corona-Krise belastet sei. Wichtig seien auch umfassende Lieferengpässe für die Industrie. Das Wirtschaftswachstum wird laut der Prognose der Institute nach Auslaufen der Pandemie im Jahre 2022 zuerst stabilisiert und dann wiederum auf 1,9% zurückfallen. „Schon vor der Corona-Pandemie haben wir mehrere Wachstumszyklen- unterbrochen von rezessiven Phasen-mit niedrigen und im Trend fallenden Wachstumsraten beobachtet.“ (1) Damit wird der Rückfall der Akkumulationsrate unter 2%, also in die sogenannte säkulare Stagnation deutlich. Weitere Zuspitzungen der Verteilungskämpfe sind unausweichlich, „die wegen der unverzichtbaren Aufwendungen für die ökologische Transformation (Kampf gegen Klimawandel) zu weiteren gesellschaftlichen Konflikten führen.“ (2) Es ist also nicht auszuschließen, dass die Bundesrepublik und anderen kapitalistischen Länder sich in politischen Streitigkeiten und gesellschaftlichem Stillstand verlieren werden, trotz Zweckoptimismus und Fortschrittsrhetorik der Sondiererinnen und Sondierer.
Entscheidend wird jedoch sein, welchen Einfluss die Entwicklung der Netzwerkökonomie mit der Digitalisierung auf die gesellschaftliche Profitrate haben wird. „Im Gesamtergebnis steigert das Rationalisierungsparadigma der Netzwerkökonomie durch Einsparung der lebendigen Arbeit die allgemeine Mehrwertrate.“ (3) Es gibt also Gegenkräfte gegen den Fall der gesellschaftlichen Durchschnittsprofitrate. Aber die „erweiterten Automatisierungsprozesse führten dort, wo sie genutzt werden und nach Maßgabe des Umfangs ihrer Anwendung…zu einer steigenden Kapitalintensität der Arbeitsplätze und dem entsprechend wieder zu einer Verstärkung des tendenziellen Falls der nationalen Profitraten.“ (4) Es gelang also nicht die strukturelle Überakkumulation des Kapitals, die auf Basis der Marxschen Theorie ableitbar ist, zu überwinden. (5) Es hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass die Umverteilung zu Gunsten der Profite nur zu einer Stabilisierung der Profitraten auf niedrigem Niveau geführt hat. Insoweit sind wir an einem gesellschaftlichen Kontenpunkt angelangt. „Neue Produktivkräfte sind vorhanden und zeichnen sich ab, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse hemmen jedoch sowohl ökonomisch durch niedrige Profitraten als auch gesellschaftlich…die Etablierung einer neuen, höheren Betriebsweise.“ (6) Es zeigt sich eine Systemgrenze, die nur durch eine Relativierung der privaten Profitproduktion, eine massive Regulierung des Finanzsektors und die Entwicklung einer Wirtschaftsdemokratie überwunden werden kann.
Diese Strukturzusammenhänge kennen weder die Sondiererinnen und Sondierer noch die zukünftigen Koalitionäre. Ihr Weg wird zu massiven gesellschaftlichen Konflikten und vermutlich zum gesellschaftlichen Stillstand führen trotz ihrer Fortschrittseuphorie. Nur eine grundlegende Änderung der Produktionsverhältnisse, als Ergebnis einer schrittweisen fortschrittlichen Reformpolitik und einer entsprechenden Änderung der politischen Kräfteverhältnisse, wird zu einer solidarischen Gesellschaft, in der soziale Gerechtigkeit, eine durchgreifenden Klimapolitik und eine demokratische Erneuerung verwirklicht werden, führen.
(1)Akkumulation nach der Pandemie: Aus Sozialismus aktuell vom 14.10.21
(2) a.a.O.
(3) Siehe Zeitschrift Sozialismus, Heft 7/8/2021, S.62
(4) a.a.O. S.62
(5) Siehe hierzu u.a. Stephan Krüger Wirtschaftspolitik und Sozialismus, Hamburg 2016 oder www.die-linke-freiburg.de/politische-oekonomie-heute.
(6) Siehe Zeitschrift Sozialismus Heft 7/8/2021, S.63
Allgemein
Sondierung ohne Kenntnis kapitalistischer Strukturzusammenhänge
Die Zukunft des Sozialismus?
DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
THOMAS PIKETTY UND DER SOZIALISMUS DER ZUKUNFT.
In dem Text „Der Sozialismus der Zukunft“ werden noch einmal Kolumnen von Thomas Piketty herausgebracht, die zwischen 2016-2021 in der Zeitung Le Monde veröffentlicht worden sind. Im Vorwort des Textes stellt er seine aktuelle theoretische und politische Position dar. Es ist zu sehen, wie aus seiner Sicht ein Sozialismus der Zukunft aussehen könnte.
Thomas Piketty beginnt mit der Feststellung, dass sich im Gegensatz zu den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts sein Verhältnis zum Kapitalismus geändert habe. „Doch 30 Jahre später, im Jahr 2020, liegt mir der Hyperkapitalismus sehr fern, und ich bin der Überzeugung, dass wir wieder über die Überwindung des Kapitalismus nachdenken müssen…“ (1) Er plädiert nun für „einen neuen, partizipativen und dezentralisierten, föderalen und demokratischen, ökologischen, diversen und feministischen Sozialismus…“ (2) Thomas Piketty will eine klar formulierte Alternative zu Kapitalismus vorlegen. Dabei lautet seine Prämisse: „…Ungleichheit ist ideologischer und politischer Natur, nicht ökonomischer oder technischer Natur.“ (3) Deswegen geht er davon aus, dass die Umverteilung von Einkommen und Vermögen seit dem frühen 20.Jahrhundert zwar begonnen habe, aber die Konzentration von Eigentum bei Wenigen immer noch auf einem hohen Niveau verblieben sei. Man habe zwar inzwischen eine größere Gleichheit erreicht als in früheren Gesellschaften, seit den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts sei aber eine Stagnation des Sozialstaats eingetreten. Deswegen seine Feststellung: „Bildungsgerechtigkeit und Sozialstaat reichen nicht aus. Um wirkliche Gleichheit zu erreichen, sind alle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu überdenken. Dafür muss natürlich auch die Macht in den Unternehmen verteilt werden.“ (4) Thomas Piketty orientiert sich dabei am Konzept der betrieblichen Mitbestimmung der Bundesrepublik, stellt aber gleichzeitig fest, dass der Widerstand der Aktionäre eine größere Verbreitung des Modells verhindert habe. Ihm schwebt vor, dass die Arbeitnehmervertreter in allen Unternehmen 50 Prozent der Stimmen haben sollten. Je größer das Unternehmen werde, desto größer müssten auch die kollektiven Entscheidungen sein. Durch eine Änderung der Rechtsverhältnisse in den Unternehmen sei aber keine wirkliche „Zirkulation von Macht“ zu erreichen. „Um eine wirkliche Zirkulation von Macht zu erreichen, müssen auch das Steuer- und Erbschaftsrecht angegangen werden, damit das Eigentum selbst in Bewegung kommt.“ (5)
Thomas Piketty kommt zu einer verblüffenden „Lösung.“ Er spricht sich für eine Mindesterbschaft für alle Bürger aus, die bei etwa 120000 Euro liegen könnte und ab dem 25.Lebensjahr auszuzahlen wäre. Diese Erbschaft für alle könnte durch eine progressive Vermögens- und Erbschaftssteuer finanziert werden. Da aber auf diese Weise nicht alle Staatsausgaben gedeckt seien, seien bei einem idealen Steuersystem 50 Prozent des Nationaleinkommens als Steuern zu erheben. Da jedoch die Erbschaft für alle noch nicht zur wirklichen Gleichheit führe, sei sie auch nur als wichtige Komponente einer gerechten Gesellschaft anzusehen. „Besitzt man nun ein kleines Vermögen, hat man mehr Optionen. Man kann sich erlauben, ein paar Angebote abzulehnen, bis ein gutes dabei ist. Man kann erwägen, ein Unternehmen zu gründen oder eine Wohnung zu kaufen, um die monatliche Miete zu sparen.“ (6) Insgesamt kommt Thomas Piketty zu dem Ergebnis: „Der von mir erhoffte partizipative Sozialismus beruht auf mehreren Säulen: Bildungsgleichheit und Sozialstaat; permanente Zirkulation von Macht und Eigentum; Sozialföderalismus und nachhaltige und gerechte Globalisierung.“ (7) Er legt Wert darauf zu betonen, dass der von ihm vertretene „partizipative Sozialismus nicht von oben herab diktiert wird. “ (8) Es komme ihm darauf an, einen Anstoß zu einer allgemeinen Diskussion zu geben.
Schon vor dem Text „Der Sozialismus der Zukunft“ hatte Thomas Piketty Furore gemacht. Sein Buch „Kapitalismus im 21.Jahrhundert“ wurde ein Bestseller ebenso wie der Text „Kapital und Ideologie.“ Manche Medien bezeichneten ihn sogar als den Karl Marx des 21.Jahehunderts. Es ist also zu sehen, ob sein Plädoyer für einen partizipativen Sozialismus theoretisch mit der Marxschen Theorie in Verbindung gebracht werden kann. Ihm ist zuzustimmen, dass es an der Zeit ist, dass die Überwindung des Kapitalismus angegangen werden muss und gegen soziale Ungleichheit vorzugehen ist. Aus Sicht der Marxschen Theorie ist allerdings seine Behauptung in Frage zu stellen, dass Ungleichheit auf polit-ideologische Maßnahmen und nicht auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen sei. Um Ungleichheit zu erklären, muss auf Basis der Marxschen Theorie auf die Produktion des Mehrwerts, die organische Zusammensetzung des Kapitals und die Entwicklung der gesellschaftlichen Profitrate und Profitmasse zurückgegangen werden. Dann kann die Ablösung der beschleunigten Akkumulation des Kapitals durch die chronische Überakkumulation in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts erklärt werden. (9) Es kann dargestellt werden, dass inzwischen das Produktionspotential und die Einkommensverhältnisse so weit auseinanderklaffen, dass auch in Aufschwungsphasen der Konjunktur ein Überfluss an Kapital existiert, der nicht per se Anlage findet. Deswegen suchten sogenannte Investoren Anlagemöglichkeiten im Finanzsektor, was mit der Herausbildung von Hedgefonds, Equity-Fonds, Pensionsfonds etc. verbunden war. Gesellschaftliche Ungleichheit hat also eine ökonomische Grundlage, erst auf dieser Basis kann soziale Ungleichheit durch politische Maßnahmen entweder verstärkt oder abgemildert werden. Diesen Zusammenhang arbeitet Thomas Piketty nicht heraus. Im Gegensatz zu ihm finden sich bei J.M. Keynes deutliche Parallelen zur Marxschen Theorie. Auch Keynes stellt für den reifen Kapitalismus eine Überreichlichkeit an Kapital fest, das in Spekulation des Finanzsektors fließt und auf lange Sicht den Kapitalismus untergräbt. Aber auch er, ebenso wie Piketty, begreifen die Verteilungsverhältnisse nicht als Kehrseite der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und verbleiben bei ihren gesellschaftlichen Vorschlägen auf dem Boden des Kapitalismus. Sie haben allerdings beide eine Vorstellung davon, dass tiefergehende Eingriffe in das Finanzwesen (Keynes) und politische Eingriffe in das Erb- und Steuerrecht (Piketty) stattfinden müssen. Piketty kommt auch dazu, dass Eingriffe in die Struktur der Unternehmen notwendig sind, bleibt aber bei seinen Vorschlägen bei der betrieblichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer der Bundesrepublik stehen. Sein Vorschlag einer Erbschaft für alle begreift er aber selbst als beschränkt in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen. Einen Sozialismus, der grundlegend die kapitalistischen Produktionsverhältnisse angreift, wird von ihm nicht als zukünftiger Weg erkannt. Er macht allerdings Vorschläge, zum Beispiel für Reformen im Bildungsbereich, Sozialstaat, für die Gleichberechtigung von Frauen und eine gerechte Globalisierung, die sehr wohl als wichtige Schritte der gesellschaftlichen Veränderung zu begreifen sind. Piketty ist allerdings nicht klar, dass die Verwirklichung dieser Schritte an Grenzen stößt, die die Gesetze der privaten Kapitalverwertung des Kapitalismus vorgeben. Bei einer alternativen Entwicklung muss ein Weg zu einer demokratisch gesteuerten Ökonomie, einem regulierten Finanzsektor und Eingriffen in die Eigentumsverhältnisse der Produktion gefunden werden. Genossenschaftliches Eigentum in der Produktion sollte zur zentralen Eigentumsform werden. In einem Marktsozialismus sind das gesellschaftliche/genossenschaftliche Eigentum, die Dispositionsgewalt über unternehmerische Investitionen und die Steuerung makroökonomischer Größen so aufeinander abzustimmen, dass eine wirtschaftsdemokratische Ordnung entstehen kann. Das ist allerdings ein Sozialismus der Zukunft, der von Thomas Piketty aufgrund seiner mangelhaften Kapitalismusanalyse nicht vorgestellt werden kann. Trotzdem leistet er einen wichtigen Beitrag dazu, grundsätzlich über den Kapitalismus neu nachzudenken. Insoweit ist er einen wesentlichen Schritt weiter als die Diskussion, die sich aktuell zwischen den etablierten bürgerlichen Parteien abspielt.
(1)Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft, München 2021, S.10
(2) a.a.O. S.1
(3) a.a.O. S.12
(4) a.a.O. S.17
(5) a.a.O. S.20
(6) a.a.O. S.23
(7) a.a.O. S.28
(8) a.a.O. S.32
(9) Siehe u.a. Stephan Krüger: Allgemeine Theorie der Kapitalakkumulation, Hamburg 2010.
Mythos Geldpolitk
DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
ÜBER MYTHEN DER GELDPOLITIK UND POLITISCHE KONSEQUENZEN (1).
Im OXI-blog hat Michael Wendl vier Aufsätze vorgelegt, in denen er mit Mythen und Vorurteilen der offiziellen Geldpolitik aufräumen will. Er beginnt damit zu untersuchen, wie sich der Staat finanziert. Er stellt fest, dass es kaum einen Bereich in der Wirtschaftspolitik gebe, der so mit Staatsverschuldungsmythen umgeben sei. Michael Wendl führt das darauf zurück, dass die bürgerliche Ökonomie vom Gleichgewichtsdenken geprägt sei und eine große Inflationsangst existiere. Um Klarheit zu schaffen, beschreibt Wendl den Modus, wie Staatsanleihen auf den Markt gebracht werden. Das laufe per Auktionsverfahren über 36 Geschäftsbanken, die dann wiederum die erworbenen Staatsanleihen an andere Banken, Fonds, Versicherungen und Private weiterverkaufen. Danach würden die Staatsanleihen von den Zentralbanken den Banken und Finanzinstitutionen abgekauft und auf diese Weise die Staatsverschuldung finanziert. Dieser an sich umständliche Weg sei allerdings den Zentralbanken rechtlich vorgeschrieben, da sie keine direkte Staatsfinanzierung betreiben dürften. Bürgerliche ÖkonomInnen und einige MedienvertreterInnen kritisieren dieses Verfahren, weil sie davon ausgehen, dass die Grundlage der Kreditgewährung die gesellschaftlichen Ersparnisse sein müssten und erst auf der Basis der folgenden Investitionen und Gewinnerzielung der Unternehmen Kredite der Banken vergeben werden dürften .Michael Wendl wendet ein, dass die Kritik nur richtig sei, wenn die Banken Intermediäre seien, das heißt, wenn sie Kredite nur ausreichen könnten, wenn vorher bei ihnen Einlagen gebildet worden seien. Banken seien aber in der Lage Kreditschöpfung zu betreiben, sie könnten quasi aus dem Nichts, wie der Ökonom Schumpeter mal formulierte, neues Geld schaffen.
An dieser Stelle soll das Problem der Geldschöpfung der Zentralbank und die der Geschäftsbanken aus marxistischer Sicht einer näheren Betrachtung unterzogen werden (2).
Grundsätzlich gilt aus marxistischer Sicht, dass die Warenzirkulation und der Kaptalumschlag (G-W-G`) die Basis der Geldzirkulation darstellen, was von Keynesianern unter Rückgriff auf Schumpeter bestritten wird. Dadurch, dass Keynesianer das Bankensystem als das Prius des Wirtschaftslebens darstellen, werden die Kausalbeziehungen aus Wertschöpfung in der Produktion und das daraus abgeleitete Bank- und Kreditsystem auf den Kopf gestellt. Michael Wendl u.a. setzen nicht die Mehrwertproduktion und ihre Gesetzmäßigkeiten an die erste Stelle, sondern den Finanzsektor als angeblichen Wertschöpfungsfaktor und berufen sich dabei auch auf die Bundesbank. In ihrem Monatsbericht vom April 2017 wird zwar gesagt, dass die Kreditvergabe der Banken nicht von ihren Einlagen oder Zentralbankguthaben abhänge, gemeint ist allerdings, dass es letztlich auf ihr Kosten-Ertrags-Kalkül, auf Regulierungsvorschriften und die Kreditnachfrage des Marktes ankomme. Das ist aber ein Gegenargument gegen die angebliche Geldschöpfung aus dem Nichts.
Es ist klar zwischen dem Geld/Kreditschöpfung des Bankensystems und der Zentralbankgeldschöpfung zu unterscheiden. Eine unbeschränkte Geldschöpfung der Banken hatte auch Keynes an extreme Modellvoraussetzungen geknüpft. Zu diesen Modellvoraussetzungen gehören ein geschlossenes Banksystem ohne Kontakt zum Ausland, ferner existiert kein Bargeld mehr und die Banken bewegen sich im Gleichschritt vorwärts. „Somit bestimmt die Gesamtmenge der vorhandenen Reserven das Tempo, in dem sich das Banksystem als Ganzes bewegt…Nehmen wir an, die Zentralbank sei die Stelle, der das Notenausgaberecht zusteht, dann werden die gesamten Reservemittel der Mitgliedsbanken unter der Kontrolle der Zentralbank stehen…In diesem Fall ist die Zentralbank der Dirigent des Orchesters und gibt den Takt an“(3). Die Frage ist also, ob die Zentralbank völlig autonom handeln kann? Dazu Stephan Krüger aus marxistischer Sicht: „Die Geschäftsbanken hängen an der Leine der Zentralbank (sowie der Kreditnachfrage der Nichtbanken), aber auch die Zentralbank ist nur Dirigent unter Bedingungen, die die Märkte setzen…“ (4). Die Zentralbank wird tätig abhängig von der Zahlungsbilanz des Landes, vom Wechselkursgeschehen und der Entwicklung der Marktzinssätze.
Michael Wendl ist zuzustimmen, wenn er es als großen Fehler bezeichnet, dass die deutsche Bundesregierung die Schuldenbremse in die Verfassung schreiben ließ und auch der EU aufgezwungen hat. Das habe die Europäische Zentralbank gezwungen, zu einer expansiven Geldpolitik überzugehen. Er stellt fest, dass wir uns „seit der Mitte der 1980er Jahre…in einer Phase der Finanzialisierung der Gesamtwirtschaft (befinden)“(5). Der Handel mit Wertpapieren bestimme zunehmend die wirtschaftlichen Aktivitäten. Investitionen in die reale Wirtschaft würden gebremst und die in den Finanzsektor gesteigert. Von marxistischer Seite wurde diese Entwicklung schon sehr früh als Übergang in die strukturelle Überakkumulation bezeichnet. Das bedeutet, dass seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts es nicht mehr gelingt, den Fall der durchschnittlichen gesellschaftlichen Profitrate durch ein Wachstum der gesellschaftlichen Profitmasse zu kompensieren. Schon vor den 70er Jahren wurde das Wachstum der Wertschöpfung tendenziell geringer. Das war noch kein echtes Problem, solange durch steigende Kapitaleinsätze die Profitmasse noch weiter wuchs. Als aber das industrielle Kapital sich nicht mehr in vollem Umfang rentierlich verwerten ließ, drängte das Geldkapital zunehmend auf die Finanzmärkte. Hinzu kamen Gelder vom Staat, Banken und Privathaushalten, die Verschuldung von Staatshaushalten, Privaten und auch Unternehmen und eine Spekulation an den Börsen und Immobilienmärkten waren die Folge.
Eine Entwicklung der genannten Probleme aus der strukturellen Überakkumulation ist Michael Wendl nicht möglich, er setzt wie die „Modern Monetary Theory“(MMT) am Finanzsektor als Prius an. Aus marxistischer Sicht sind gegenüber diesem Ansatz folgende Kritikpunkte vorzubringen (6):
1.Ein Fundamentalfehler der MMT liegt bei ihrer Fassung der Geldeigenschaften. Ihre VertreterInnen fassen das Geld nicht als ein im Austauschprozess der Waren entstehendes Äquivalent des Werts, also nicht als notwendiges Resultat, das aus dem System der gesellschaftlichen Arbeit abzuleiten ist. Sie fassen das Geld als ein vom Staat geschaffenes und von der Zentralbank gesteuertes Transaktionsmedium, quasi durch einen Buchungssatz aus dem Nichts.
2. Da der Staat bzw. die Zentralbank das Geld selbst produzieren, folgt aus ihrer Sicht die Unmöglichkeit einer Staatspleite. Im Gegenteil, die Staatsverschuldung könne immer ohne Probleme grenzenlos weitergeführt werden.
3. Bei der MMT fehlt der komplette Rückbezug auf die Bedingungen der privaten Kapitalverwertung. Außerdem fehlt die Unterscheidung zwischen einem langfristig beschleunigten Wachstum im Kapitalismus und ihre durch die Gesetze der Kapitalverwertung hervorgerufene Ablösung durch die strukturelle Überakkumulation.
4. Die MMT blendet die Einbettung einer Volkswirtschaft in die internationale Konkurrenz aus. Die Schuldenkrisen in verschiedenen Ländern zeigen deutlich die Grenzen staatlicher Geldschöpfung und Kreditexpansion.
5. Anstatt ungehindert am Rad öffentlicher Verschuldung zu drehen, kommt es auf eine abgewogenen expansive Fiskal- und Geldpolitik und eine aktive öffentliche Strukturpolitik in einer sozialistischen Marktwirtschaft und einem demokratischen Sozialismus an. Diesen Weg kann die MMT nicht aufzeigen.
6. Zuzustimmen ist allerdings der Forderung nach Streichung der Schuldenbremse, der Einführung von Finanztransaktionssteuern und der Stärkung des umlagefinanzierten Sozialsystems. Das müssen allerdings Schritte auf dem Weg in Richtung einer grundlegenden Strukturveränderung des Kapitalismus sein, ein Weg der sowohl von Wendl als auch von der MMT nicht aufgezeigt wird.
(1) Siehe Michael Wendl Im OXI-Blog: Mythen der Geldpolitik in den Ausgaben vom 16/8/21, 18/8/21, 23/8/21 und 25/8/21.
(2) Siehe Stephan Krüger: Das Problem der Marxisten mit dem Geld und begriffslose Anleihen der Keynesianer bei Schumpeter, Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr.104 12/2015.
(3) J. M. Keynes, Vom Gelde, Berlin 1931, S.23.
(4) Stephan Krüger a.a.O.
(5) Michael Wendl a.a.O.
(6) Krüger/Müller: Das Geld im 21.Jahrhundert, Köln 2020, S.145-150.
Linkspartei,Rot-Rot-Grün und gesellschaftliche Perspektiven
DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
LINKSPARTEI, ROT-GRÜN-ROT UND GESELLSCHAFTLICHE PERSPEKTIVEN (1).
Zuerst ist festzustellen, dass die Linkspartei im Vergleich zu den Bundestagswahlen 2017 deutlich an Zustimmung bei der Wahlbevölkerung verloren hat. Nur noch 6-7 Prozent der Wählerinnen und Wähler wollen Anfang September 2021 bei der Bundestagswahl am Ende September für die Linkspartei stimmen. Das liegt vermutlich u.a. daran, dass sie sich lange in Grundsatzdebatten verzettelte und nicht als Partei wahrgenommen wurde, die konkrete und umsetzbare Vorschläge zur Lösung der Alltagsprobleme in die Diskussion brachte. Nun aber hat die Parteiführung ein Sofortprogramm vorgelegt und ihre Bereitschaft erklärt, im Rahmen eines rot-grün-roten Bündnisses auch Regierungsverantwortung zu übernehmen. Eine solche Koalitionsmöglichkeit zeichnet sich etwa drei Wochen vor dem Wahltermin am 26.September ab. Allerdings haben die SPD und auch die Grünen einen klaren Aufwärtstrend zu verzeichnen im Gegensatz zur CDU/CSU. Da auch die FDP einen klaren Aufwärtstrend erlebt, sind augenblicklich rechnerisch jenseits der CDU/CSU Koalitionen aus SPD und Grünen, aus SPD, Grünen und FDP und eben auch eine rot-grün-rote Koalition möglich.
An diesem Punkt setzt Dietmar Bartsch bei der Vorstellung des Sofortprogramms der Linkspartei an und weist mit Recht darauf hin, dass es in dieser Wahl um eine Richtungsentscheidung gehe. Ein Mitte-Links-Bündnis sei das Beste für Deutschland und Europa, es könne nicht mehr ein „Weiter so“ geben. Aus diesem Grund benennt die Linkspartei in ihrem Sofortprogramm erste Schritte zur gesellschaftlichen Veränderung. Es komme auf gute Arbeit bei fairen Löhnen, eine Stärkung der Tarifbindung, Steuersenkungen für geringe und mittlere Einkommen, eine Kindergrundsicherung, höhere Renten, Mietstopp und Klimaschutzmaßnahmen sowie eine Vermögensabgabe und Vermögenssteuer an. Damit benennt die Linkspartei Themenbereiche, die einerseits die Interessen eines großen Teils der Wahlbevölkerung betreffen und andererseits die meisten Schnittmengen mit der SPD und den Grünen ermöglichen. Das Politbarometer des ZDF vom 3.September 2021 hat festgestellt, dass für die Wahlentscheidung der Befragten 51 Prozent das Thema soziale Gerechtigkeit und für 39 Prozent das Thema Klimaschutz wahlentscheidend sein werde. Diese Themen haben auch bei der SPD und den Grünen höchste Priorität. Die Themenbereiche Corona und Migration werden zwar ebenfalls bei Wählerinnen und Wählern als Präferenzen genannt, allerdings deutlich hinter der sozialen Gerechtigkeit und dem Klimaschutz. Es bleibt abzuwarten, ob es zwischen der SPD, den Grünen und der Linkspartei bei einem entsprechenden Wahlergebnis zu tragfähigen Kompromissen kommen kann.
Die größte Hürde für eine Mitte-Links-Koalition liegt laut Olaf Scholz in der Außenpolitik. Allerdings hat Janine Wissler zu Recht darauf hingewiesen, dass es um ein sozial-ökologisches Sofortprogramm gehe und nicht um eine langfristige Festlegung und Ausrichtung auf die Führungsmacht USA und die Nato. Hier sieht die Linkspartei auf längere Sicht, gerade angesichts des Afghanistan-Debakels, zu Recht Diskussionsbedarf. Ein progressiver Multilateralismus, eine Bindung der Außenpolitik an das Völkerrecht und grundlegende Menschenrechte dürften Optionen sein, an denen auch die SPD und die Grünen und die EU insgesamt auf Dauer nicht vorbeikommen werden. Klar sollte sein, dass die Führungsrolle der USA und auch die Schaffung der Nato Kinder des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion waren. Mit dem Niedergang der Sowjetunion und dem sogenannten “realen Sozialismus“ entstand eine außenpolitische Situation, in der sich die Nato nicht mehr als reines Verteidigungsbündnis verstehen konnte. Sie ging dann zu einer Politik über, überall dort militärisch einzugreifen, wo sogenannte „westliche Werte“ in Frage gestellt wurden. Es ist heute an der Zeit, seitens der Bundesrepublik und der EU insgesamt diese Position zu überdenken, und das macht die Linkspartei gerade, auch angesichts des Afghanistan-Debakels.
Die Linkspartei will daran mitwirken, ein neues soziales Fundament für unsere Gesellschaft zu schaffen. Allerdings sind die Schritte der Veränderung, die sie vorschlägt, gleich ein Schritt in den Mindestlohn, eine gerechte Steuerpolitik, höhere Altersrenten und Sozialtransfers sowie effektiven Klimaschutz. Sie unterlässt es, die wirtschaftliche Grundlage des Kapitalismus näher in den Blick zu nehmen. Auf dem Weg zu sicherer Arbeit, sozialer Gerechtigkeit und Klimaschutz kann man natürlich bestimmte Verteilungsschritte betonen, aber schlussendlich muss eine Linkspartei immer deutlich machen, dass es um die grundlegende Veränderung der durch das private Kapital dominierten Wirtschaftsordnung geht. Allein mit wichtigen Schritten der Verteilung hat man den Modus der Erwirtschaftung des gesellschaftlichen Wohlstandes nicht verändert. Es muss bei Linken immer klar sein, dass die gesellschaftlichen Verteilungsverhältnisse die Kehrseite der zugrunde liegenden Produktionsverhältnisse sind. Es ist davon auszugehen, dass im Sinne der Marxschen politischen Ökonomie die individuelle Arbeitskraft als Ware zu verkaufen ist. Die Kapitalisten, ob nun als Kapitalgesellschaften, Personengesellschaften oder Einzelunternehmer kaufen die Ware Arbeitskraft nur, wenn sie einen Mehrwert abwirft. Das geschieht im Produktionsprozess, indem der Arbeitstag in die notwendige und Mehrarbeitszeit geteilt wird, ohne dass das den Beteiligten unmittelbar bewusst wird. In der notwendigen Arbeitszeit wird vom Arbeitenden der Gegenwert für den Wert der Arbeitskraft geschaffen und in der verbleibenden Mehrarbeitszeit der Mehrwert, der von den Kapitalisten aufgrund ihres Eigentums an den Unternehmen unentgeltlich angeeignet werden kann. Dieser Aneignungsprozess wird verschleiert, weil der an den Arbeitenden gezahlte Arbeitslohn scheinbar die Arbeit entlohnt und nicht die Arbeitskraft, Schon der Begriff das Arbeitslohns führt in die Irre, denn es wird nicht die Arbeit entlohnt, sondern der schon vorher vollzogene Verkauf der Arbeitskraft. Wenn der Arbeitende zu arbeiten beginnt, gehört ihm die Arbeitskraft gar nicht mehr. Diese Verschleierung des Aneignungsprozesses in der Produktion zieht sich durch die gesamte Struktur der Gesellschaft und wird auf verschiedenen Ebenen im Bewusstsein der Beteiligten verankert. An der Oberfläche der Gesellschaft treten sich die Beteiligten als angeblich selbstbestimmte Warenbesitzer gegenüber. Jeder erzielt scheinbar ein Leistungseinkommen und ein Teil der Beteiligten in Wirtschaft und Politik erklärt ihre Privilegien durch ihren Status als Leistungsträger. Weil historisch, aufgrund der Tätigkeit von Gewerkschaften und Arbeiterparteien, ein gewisses Maß an Umverteilung durchgesetzt werden konnte, ist es gelungen, Freiheitsspielräume vieler Bürgerinnen und Bürger zu erweitern und an größeren Teilen der Wertschöpfung teilhaben zu lassen. Nur so ist es zu verstehen, dass trotz vielfältiger Krisen und einem enormen Auseinanderklaffen der Einkommens- und Vermögensverhältnisse, viele Bürgerinnen und Bürger immer noch diese Gesellschaft als eine Gesellschaft betrachten, in der sie ihre Wünsche und Interessen verwirklichen können und ihre Leistung honoriert wird. Das wir bestätigt, wenn man sich die repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Juli dieses Jahres anschaut. 56 Prozent der Bürgerinnen und Bürger haben eine gute Meinung vom deutschen Wirtschaftssystem, nur 15 Prozent sehen diese Ordnung kritisch. Aus Sicht der Mehrheit der Bevölkerung hat sich auch die sogenannte soziale Marktwirtschaft in der Corona-Krise bewährt. Diese Mentalitäten gilt es zu bedenken, wenn die Linkspartei Schritte der Veränderung der Gesellschaft mit der SPD und den Grünen ins Auge fasst. Hier liegt die eigentliche Herausforderung, die Menschen bei den Veränderungsschritten mitzunehmen, ohne das bisher Erreichte preiszugeben.
Da seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die kapitalistischen Hauptländer das Ende der Nachkriegsprosperität erlebten, wurde durch neoliberale Politik versucht, vor allem durch Umverteilung zu Gunsten des privaten Kapitals eine neue Prosperität zu erreichen und in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen eine Marktöffnung vorzunehmen. Diese Marktöffnung führte zu erhöhter sozialer Unsicherheit. Beschäftigte wurden aufgefordert, in Zukunft mehr Selbstverantwortung zu übernehmen, weil soziale Sicherheiten aus der Prosperitätsphase ganz oder teilweise wegfielen. Alle Macht den Märkten wurde die Devise. Versprechen, die noch in der alten sozialen Marktwirtschaft gegeben worden waren, zum Beispiel, dass sich Leistung immer lohnen würde, wurden untergraben. Teile der unteren Mittelklassen und der Arbeiterklasse, die besonders betroffen waren, wurden empfänglich für rechtspopulistische Versprechen. Die Corona-Krise erzwang allerdings eine Abwendung von der Marktöffnungspolitik und führte zu einer massiven staatlichen Verschuldung zur Abwehr der Krisenfolgen. Es wird also nach der Corona-Krise darauf ankommen, nicht zur neoliberalen Politik zurückzukehren und die Schuldenlasten nicht bei den Schwächsten der Gesellschaft abzuladen.
Es entstehen damit Ansatzpunkte für eine progressive Politik von SPD, Grünen und der Linkspartei.
1.Linke Politik muss die soziale Sicherheit, eine neue Qualität der Erwerbsarbeit, bessere Wohnbedingungen, bessere Bildung, Umwelt, Gesundheit und Pflege auch nach der Corona-Krise einfordern.
2. Linke Politik muss für Wirtschaftsdemokratie eintreten.
3. Linke Politik muss, weil der Zusammenhang von Arbeit-Leistung-Einkommen und Eigentum für viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr gegeben ist, vor allem ein gemeinschaftliches Eigentum an den Arbeitsmitteln verwirklichen, allerdings differenziert nach Unternehmensform und Unternehmensgröße.
4. Linke Politik muss die Dominanz der Vermögenbesitzer, insbesondere von großen Vermögensverwaltern, zurückdrängen.
5. Linke Politik muss auf eine neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung hinarbeiten, die nicht mehr den privaten Profit zum Maßstab wirtschaftlichen Handelns erhebt. Dabei ist eine klare Abgrenzung von dem sogenannten realen Sozialismus vorzunehmen. Es muss gezeigt werden, dass Wirtschaftsdemokratie nichts mit der damaligen Planbürokratie und der Herrschaft einer Partei gemein hat. Es ist vielen Bürgerinnen und Bürgern noch sehr bewusst, dass das zu katastrophalen wirtschaftlichen Zuständen und massiven Einschränkungen individueller Freiheiten geführt hat. Die Alternative der Linken muss eine Demokratisierung aller gesellschaftlicher Bereiche sein, eine Verbindung von sozialistischer Marktwirtschaft mit einem demokratischen Sozialismus.
(1) Dieser Aufsatz basiert auf aktuellen Beiträgen von Sozialismus aktuell und Ergebnissen von politökonomischen Seminaren der Linkspartei Freiburg.
Das afghanische Debakel
Dr. Peter Behnen
Die Linke Freiburg
AFGHANiSTAN- WIE ÖKONOMIE, IDEOLOGIE UND POLITIK EIN LAND ZERSTÖREN (1)
Der Rückzug der amerikanischen Truppen und der Nato-Truppen insgesamt aus Afghanistan lässt die afghanische Gesellschaft im Chaos zurück. Die Masse der Bevölkerung ist weiter bettelarm, ein Viertel der Bevölkerung ist unterernährt und es fehlt eine leistungsstarke Landwirtschaft. Nur die Hälfte der afghanischen Jungen und ein Viertel der Mädchen besuchen eine Schule. Besonders Frauen und Mädchen erfahren täglich Menschenrechtsverletzungen. Es zeigt sich sehr deutlich, auch und gerade nach einer zwanzigjährigen Militärintervention des Westens, dass sich Afghanistan weiter auf einem äußerst geringen Entwicklungsniveau befindet.
Die Frage ist allerdings, worin die tieferen Gründe für diese Entwicklung liegen?
Festzuhalten ist, dass die afghanische Gesellschaft keine kapitalistische Produktionsweise mit einer bürgerlich-demokratischen politischen Ordnung aufweist. Es handelt sich um eine vorbürgerliche Produktionsweise, bei der die Hälfte der Bauern noch Subsistenzwirtschaft betreibt. Es liegt eine Stammesgesellschaft vor, die auf Verwandtschaftsbeziehungen basiert, die zugleich mit politischen, patriarchalen und religiösen Strukturen verbunden sind. Es fehlt eine klare Unterscheidung von ökonomischer Basis und Überbaustrukturen, wie wir sie aus kapitalistischen Gesellschaften kennen. Afghanistan als Stammesgesellschaft besteht aus über 50 Ethnien, von denen die Paschtunen den größten Stamm bilden und die Führung des Landes beanspruchen. An der Stammesversammlung (Jirga) nehmen alle männlichen Stammesmitglieder teil, in der zwar nach dem Konsensprinzip entschieden werden soll, aber die Paschtunen sich in der Regel durchsetzen können. Frauen haben wenig Rechte und haben häufig Rechtsverletzungen und Gewalt zu erleiden.
Dieser gesellschaftliche Hintergrund ist als Folie zum Verständnis der Gesellschaft Afghanistans und auch ihrer jüngeren Geschichte zu nehmen. Allerdings in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts stand Afghanistan am Scheideweg zwischen der islamischen Tradition und der Moderne. Es herrschte Frieden und der König Mohammed Sahir Schah forderte demokratische Rechte auch für Frauen. Es entstand eine Bewegung von Studentinnen und Studenten in Kabul, allerdings gespalten in Vertreter des Sozialismus und der islamischen Revolution. Der Konflikt breitete sich aus, die Monarchie ging unter und die kommunistische Partei Afghanistans ergriff die politische Macht. Sie wollte das Land radikal verändern, jedoch mit stalinistischen Methoden ohne Rücksicht auf die tatsächlich vorhandenen gesellschaftlichen Gegebenheiten. Die kommunistische Partei stieß auf den Widerstand der Mudschahedin, die Vorläufer der Taliban, die sich besonders aus Kämpfern vom Land rekrutierten. Sie wurden von Bauern, Viehzüchtern und teilweise auch Nomaden unterstützt und von Anfang an auch finanziell aus den USA. So war es kein Wunder, dass Afghanistan zum Schauplatz des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und den USA wurden. Die sowjetischen Truppen rückten ein, um die Herrschaft der kommunistischen Partei zu sichern, ein Bürgerkrieg ab 1979 war die logische Folge. Der Konflikt dauerte 10 Jahre und führte 1989 nach einer erfolglosen Intervention zum Abzug der sowjetischen Truppen, oder wie in den USA gesagt wurde, zu einem „Vietnam“ der Sowjetunion. Die Niederlage der Sowjetunion trug zum Zusammenbruch der gesamten Sowjetunion bei, aber auch zur Geburt des islamistischen Fundamentalismus. Der Truppenabzug der Sowjetunion führte nicht zum Frieden in Afghanistan, sondern zu weiteren Kämpfen der Mudschahedin untereinander bis 1994 eine neue Bewegung in die Kämpfe eingriff, die Frieden versprach, die sogenannten Taliban. Sie obsiegten 1996, nachdem sie von den USA aber auch aus Pakistan massiv unterstützt worden waren. Ihr Sieg verwandelte das Land in eine Brutstätte für den radikalen Islamismus und zum Aufenthaltsort für Osama Bin Laden, den Anführer der Al-Kaida. Die USA hatte ihr Antikommunismus wieder einmal in eine Sackgasse geführt, bis es am 9.11.2001 zu einem Terroranschlag in New York kam, für den Osama Bin Laden und die Al-Kaida verantwortlich gemacht wurden. Da die Taliban in Afghanistan Bin Laden weiter schützten, rückte die US-Armee in Afghanistan ein, um die Taliban zu stürzen und Bin Laden zu stellen. Trotz allem begrüßten viele Afghaninnen und Afghanen die ausländischen Truppen voller Hoffnung. Frauen konnten ihre Burkas ablegen und es fanden freie Wahlen statt. Ehemalige Kriegsherren zogen ins Parlament ein mit dem Segen der USA. Andere Taliban wurden ausgeschlossen, ein neuer Aufstand entwickelte sich, trotz massiver Investitionen der USA und anderer Nato-Partner. Die Investitionen erfolgten ohne Plan und flossen in die Taschen von Wenigen. Es herrschte weiter allgemeine Armut, es gab Bildung für Wenige und kaum Wohlstand und Bildung für Landbewohner. Auf dieser Basis regenerierten sich die Taliban und gewannen in schweren Kämpfen das Land Stück für Stück zurück. Der Kampf wurde von beiden Seiten mit großer Brutalität geführt und auch die Zivilbevölkerung hatte hohe Verluste zu beklagen.
Spätestens jetzt hätte klar werden müssen, dass angesichts der oben skizzierten Gesellschaftsstruktur weder ein Sozialismus sowjetischer Prägung noch eine kapitalistische Gesellschaft mit einer parlamentarischen Demokratie verwirklicht werden konnte. Diese Einsicht war es jedoch nicht sondern die Tötung Bin Ladens, die seit 2014 zum langsamen Rückzug der USA von Afghanistan führte. Inzwischen haben die Taliban Kabul und Afghanistan insgesamt zurückgewonnen und die USA und ihre Nato-Verbündeten müssen bis zum 31.8.21 das Land verlassen. Das Gebäude der Illusionen, dem die USA und ihre Verbündeten im 20jährigen Militäreinsatz erlegen sind, ist komplett eingestürzt. Zugleich entstand eine Zäsur für die internationale Politik insgesamt. „Die hastige Beendigung der Militärintervention in Afghanistan hängt auch damit zusammen, dass sich der geo-politische Fokus der USA grundlegend verändert hat.“ (2) Den systemischen Rivalen China gilt es aus Sicht der US-Politik einzudämmen, es geht darum, die Volksrepublik China bei dem Ausbau ihrer Technologien und auch militärischen Kapazitäten zu stoppen. Die Entwicklung in Afghanistan liegt offensichtlich nicht mehr im nationalen Interesse der USA. Es ist deswegen damit zu rechnen, dass China in dieses politische Vakuum stoßen wird, ohne dass mit dem Projekt „Neue Seidenstraße“ das chinesische Modell anderen Nationen aufgedrängt werden soll. Im Zuge der Plattform-Ökonomie ist davon auszugehen, dass China die in Afghanistan vermuteten Bodenschätze (Lithium, Kupfer, seltene Erden etc.) nutzen und im Gegenzug das Taliban-Regime finanziell unterstützen will.
In der Bundesrepublik konzentriert man sich augenblicklich auf die Fehler-analyse zum Afghanistan-Konflikt. Sowohl die CDU/CSU, SPD und die Grünenmüssen sich vorhalten lassen, bis zuletzt die Intervention in Afghanistan unterstützt zu haben und sich vor den Karren der westlichen Außenpolitik haben spannen lassen. Der Partei Die Linke fehlte bisher ein klares außenpolitisches Profil, sie hatte jedoch richtigerweise die Afghanistanpolitik konsequent verurteilt. Die Linke sollte nun in die „Offensive gehen und am afghanischen Desaster beispielhaft klarstellen, um was es im Rahmen einer zukunftsfähigen Außenpolitik primär gehen muss, nämlich um verstärkte internationale Kooperation und nicht um die Bewahrung und den Ausbau technologischer und militärischer Vorherrschaft des Westens.“ (3)
(1)Diesem Aufsatz liegen der Dokumentarfilm „ Afghanistan-Das verwundete Land“ von 2020 und der Aufsatz von Friedrich Steinfeld „ Das afghanische Debakel“ aus Sozialismus aktuell vom 21.8.21 zugrunde.
(2) Friedrich Steinfeld a.a.O. S.4
(3) Friedrich Steinfeld a.a.O. S. 6
Das Ende des Kapitalismus?
DR.PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
WIE ENDET DER KAPITALISMUS?
Der Film „System-Error-Wie endet der Kapitalismus?“ von Florian Opitz von 2018, der 2020 in der ARD ausgestrahlt wurde, beschäftigt sich mit den Folgen des Wirtschaftswachstums. Er will Einblicke in die Welt des Kapitalismus, vor allem des Finanzkapitalismus, geben. Es ist zu sehen, welche Thesen Opitz vertritt und vor allem welche gesellschaftliche Alternative er anbietet. Aus marxistischer Sicht muss insbesondere betrachtet werden, wie Opitz die Struktur des Kapitalismus samt seinen Widersprüchen darstellt und ob er eine Alternative jenseits des Kapitalismus entwickeln kann.
Florian Opitz steigt in das Thema ein, indem er sich die vor allem in den gesellschaftlichen Eliten verbreitete Ansicht vornimmt, das Wachstum der Wirtschaft kenne keine Grenzen. Er hält dem die Auffassung von Karl Marx entgegen, Wachstum im Kapitalismus habe ein Ende und zerstöre das System selbst. An dieser Stelle ist allerdings gegenüber Opitz anzumerken, dass Marx nicht vom Wachstum an sich sprach, sondern vom Grundprinzip des Kapitalismus, der Produktion des Mehrwertes, ausging. Das führt u.a. zum wichtigsten Gesetz dieser Produktionsweise, dem tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate. Da stößt nach Marx die Entwicklung der Produktivkräfte (technische Entwicklung) an die Grenze des Systems mit der Aufhebung der Produktionsweise als Schluss.
Florian Opitz folgt jedoch nicht der Marxschen Argumentation, obwohl er in häufiger zitiert, sondern der Position Tim Jacksons. Tim Jackson, seines Zeichens Professor für nachhaltige Entwicklung an der Universität Surrey in Großbritannien, gilt als reiner Wachstumskritiker, der einen Wohlstand ohne Wachstum propagiert und Mitglied des legendären Clubs of Rome ist. Opitz stellt seinen Thesen die Vorstellungen verschiedener Vertreter der Industrie und Politik gegenüber, die, wie könnte es anders sein, das Wachstumsstreben aus der Natur des Menschen herleiten. Opitz kritisiert richtigerweise dieses Bewusstsein und führt es auf die Prosperitätsphase des Kapitalismus nach dem 2.Weltkrieg zurück. Dem ist aus marxistischer Sicht zu entgegnen, dass hier tiefer in die Struktur des Kapitalismus eingestiegen werden muss. Dass die Produktion von Mehrwert als Triebfeder des Kapitalismus weder von Industrievertretern, Politikern aber auch vielen Lohnabgängigen nicht erkannt wird, ist nicht auf eine Phase des Kapitalismus beschränkt. An der Oberfläche der Gesellschaft entsteht durch die Kategorie des Arbeitslohnes die Vorstellung, es werde die Arbeit entlohnt und nicht der Verkauf der Arbeitskraft. Die Gesellschaft stellt sich als Gesellschaft gleicher Warenbesitzer dar, die unter sich die Ergebnisse der Wertschöpfung als Leistungseinkommen aufteilen. Die Ergebnisse der gesellschaftlichen Arbeit der Arbeitenden und auch das Wachstum können als naturgegeben angesehen werden und werden nicht mehr auf die Aneignung des Mehrwertes durch Kapitalisten zurückgeführt. Dieses Bewusstsein beherrscht viele Gesellschaftsmitglieder und kann immer dann aufgebrochen werden, wenn die Entwicklung der Wirtschaft nicht mehr reibungslos abläuft.
Florian Opitz sieht nun, dass das Wachstumsbewusstsein seit der Mitte der 70er Jahre erschüttert wurde, weil viele Menschen erfuhren, dass der Kapitalismus nicht mehr prosperiert, sondern mit Arbeitslosigkeit und sozialen Unsicherheit verbunden ist. Opitz sieht nun im Sinne des Clubs of Rome das Ende der Wachstumsgesellschaft gekommen und stellt fest, dass Wirtschaft und Politik die Finanzmärkte als Rettungsanker entdecken. Was Opitz nicht sieht ist, dass sich hier grundlegende Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus durchsetzen. Der tendenzielle Fall der durchschnittlichen Profitrate, der durch das relativ langsamere Wachstum der Arbeitskräfte gegenüber den Produktionsmitteln entsteht, konnte solange überspielt werden, solange das Gesamtkapital schneller wuchs als der Fall der Profitrate. Nur dann konnten die Kapitalisten auf erweiterter Basis produzieren lassen und konnten sowohl Arbeitskräfte und Produktionsmitten gleichzeitig wachsen, wenn auch ungleichmäßig. Diese Phase des Kapitalismus endete mit der Mitte der 70er Jahre und führte zur Entwicklung des Finanzkapitalismus. Kapitalisten versuchten nun durch Börsengeschäfte, Spekulation und Immobiliengeschäfte ihrem Untergang zu entgehen und zur gesteigerten Verwertung ihres Kapitals zurückzukehren. Es geht also nicht um ein Phänomen einer Wachstumsgesellschaft, sondern um grundlegende Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus. Florian Opitz beschreibt nun richtig, mit welchem Bewusstsein die handelnden Personen auf den Finanzmärkten agieren, zum Beispiel Vertreter von Allianz und anderen Finanzkonzernen, die selbst als Gefangene des Wachstums der Finanzmärkte dargestellt werden. Das Schuldenmachen wird nun aus Sicht von Opitz zur treibenden Kraft des Kapitalismus. An dieser Sichtweise ist richtig, dass Geld und Kredit notwendige Elemente der kapitalistischen Produktionsweise sind und sich zeitweilig gegenüber der Mehrwertproduktion verselbständigen können, aber in letzter Instanz immer wieder auf die Produktion des Mehrwertes zurückzubeziehen sind. Es ist eine Illusion zu glauben, dass auf die Dauer die Verselbständigung der Finanzmärkte im Kapitalismus weitergetrieben werden kann, ohne das gesamte System zum Einsturz zu bringen. Das wäre dann auch das Ende der Mehrwertproduktion und der privaten Kapitalverwertung. Auch Opitz sieht das Ende, aber bedingt durch die Gier nach Wachstum und nicht aufgrund der Gesetzmäßigkeiten der Mehrwertproduktion.
Auch Florian Opitz fragt nach Alternativen zu dieser Wirtschaftsordnung und kommt auf die VR China als Alternative. Er stellt fest, dass auch hier das Wachstum ganz großgeschrieben wird, Er unterlässt es allerdings, genauer den sogenannten „Sozialismus chinesischer Prägung“ zu untersuchen und den Unterschied zu kapitalistischen Gesellschaften herauszuarbeiten. Eine solche Untersuchung hätte ergeben, dass hier in kurzer Zeit ein unterentwickeltes Land in eine moderne Industriegesellschaft transformiert wurde, mit allerdings großen sozialen Ungleichheiten und politischen Widersprüchen. Sie hätte aber auch ergeben können, dass eine sozialistische Marktwirtschaft eine Alternative zum Kapitalismus erbringen könnte und, im Gegensatz zur VR China, eine Demokratisierung auf allen gesellschaftlichen Ebenen.
Opitz sieht richtig, dass das Kartenhaus der Finanzmärkte 2008 zusammenbrach, begonnen beim Zusammenbruch der Lehman Brothers. Ihm ist auch zuzustimmen, dass die Notwendigkeit einer stärkeren Regulierung des Finanzsektors gegeben war und diese Chance vertan wurde. Der digitale Kapitalismus wurde inzwischen als Rettungsanker des Kapitalismus propagiert. Opitz gibt zu bedenken, dass nun ein Verteilungsproblem entstünde, weil durch die fortschreitende Automatisierung immer mehr Menschen aus dem Produktions- und Dienstleistungsprozess verdrängt würden, deren kaufkräftige Nachfrage dann an den Märkten fehlte. Es hätte von ihm aber deutlicher herausgestellt werden müssen, dass es darum geht, die Verteilung als Kehrseite der Produktionsverhältnisse zu begreifen und diese grundlegend zu verändern sind. Das würde bedeuten, schrittweise den Profit als Steuerungselement der Wirtschaft zurückzudrängen und durch eine schrittweise Demokratisierung Anknüpfungspunkte einer neuen Wirtschaftsordnung zu schaffen. Da bei Opitz dieser Weg zu einer nachkapitalistischen Ordnung nicht deutlich wird und er bei einer allgemeinen Wachstumskritik bleibt, bleibt für ihn nur die Hoffnung auf Veränderung ohne Vorschläge für eine alternative Ordnung.
Gold, Geld und Geldpolitik heute.
Dr. PETER BEHNEN
DIE LINKE FREIBURG
GOLD, GELD UND GELDPOLITIK HEUTE (1).
Für viele Ökonomen gilt es als antiquiert, wenn heute eine Beziehung zwischen der Geldware Gold und den Währungen der kapitalistischen Staaten herausgefunden werden soll. Schließlich gibt es seit etwa vier Jahrzehnten keine Goldkonvertibilität des US-Dollar mehr, das heißt, die Notenbank der USA ist nicht mehr gezwungen, US-Dollar auf Verlangen anderer Notenbanken in Gold umzutauschen. Das war im Rahmen des sogenannten Bretton-Woods-Abkommens von 1944 vereinbart worden, um das Vertrauen in den US-Dollar als Weltgeld zu gewährleisten. Nach dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-System ist es bisher gelungen, ohne Rückgriff auf Gold verschiedene Finanz- und Währungskrisen zu beherrschen. Es entstand die Vorstellung, auf Gold könne ganz im dem Wirtschaftsverkehr, insbesondere als Währungsreserve, verzichtet werden. Wenn das richtig wäre, hätte das allerdings gravierende Folgen für die Marxsche Theorie des Wertes. Sie geht davon aus, dass die spezifische Form der gesellschaftlichen Arbeit im Kapitalismus die Grundlage des Wertes der Waren und der Wertformen ist und zu eine Geldform mit Selbstwert, also Gold, führt.
Es ist somit Aufgabe von Marxisten heute, ausgehend von der Marxschen Theorie des Wertes die Vermittlung zu den erscheinenden Verhältnissen an der Oberfläche der Gesellschaft mit Geld, Preis und Währung darzustellen. Dabei ist fundamental, dass
1.die Ableitung der Geldform aus den Austauschverhältnissen zwingend erfordert, dass sich ursprünglich zwei Waren gegenüberstehen.
2. der Wert der Waren die abstrakt gesellschaftliche Arbeit zur Grundlage hat
3, der Wert einer Ware sich im Gebrauchswert einer anderen Ware ausdrücken muss
4. die Ware, in der sich der Wert aller Waren ausdrückt, die sogenannte Äquivalentform, Selbstwert besitzen muss, weil sie sonst kein Wertmaß für die anderen Waren sein könnte.
Das bedeutet, dass zur Ableitung des Geldes bei der Ware begonnen werden muss. Wenn das nicht gemacht wird, wäre Geld „pfiffig ausgedacht“ und nicht aus dem Warenverkehr naturwüchsig entstanden. Marx geht von bewusst-unbewusstem Handeln der Warenbesitzer aus, das heißt, sie verhalten sich bewusst zu dem unbewussten Ergebnis ihres Handelns. Hierbei handelt se sich um typisches Verhalten der Akteure im kapitalistischen Wirtschaftsprozess. Beispielhaft sei noch genannt, dass die Aktion der Wirtschaftsakteure unbewusst ökonomische Krisen hervorruft zu denen sie sich dann bewusst verhalten müssen. Der Wert der Waren wurde ursprünglich in Gold gemessen. Es konnte im Verlauf des kontinuierlichen Warenverkehres durch Zeichen ersetzt werden, zum Beispiel Münzen und verschiedene Formen von Banknoten. Diese Wertzeichen wurden zur Grundlage des heutigen Währungssystems, ursprünglich von Privatbanken und später durch Zentralbanken herausgegeben, Das Repräsentativgeld von heute baut somit auf der Grundlage des ursprünglichen Geldes mit Selbstwert auf. Aus Sicht der Marxschen Theorie kommt es zusammengefasst zu folgenden Thesen:
1.Die gesellschaftliche Grundlage des Geldes ist, wie gesagt, die historisch-spezifische Arbeit im Kapitalismus.
2.Die Produkte werden vorherrschend als Waren produziert.
3.Ware und Geld haben ein naturwüchsiges Verhältnis zueinander
4.Zeichengeld (Münzen und Papiergeld in verschiedenen Formen) haben als Grundlage die Geldware Gold, egal ob konvertibel oder nicht. Das gilt auch für das inkonvertible Zentralbankgeld von heute.
5.Die Geldpolitik der Zentralbank baut auf dieser Basis auf und erhält auf diese Weise ihre Steuerungsmöglichkeiten aber auch ihre Grenzen. Es findet eine Ersetzung der Geldware Gold statt, es besteht aber die Gefahr der Rückkehr zur Goldbasis, wenn das Währungssystem in eine tiefgreifende Krise gerät und auch die Zentralbanken ihre Funktion als Rettungsanker des Systems verlieren.
Zur Verdeutlichung der Entwicklung des modernen Repräsentativgeldes ist eine historische Rückschau notwendig. Die historisch erste Form des Geldes ist die des Weltgeldes, da der Tauschhandel und das Geld sich am Rande der Gemeinwesen und auch der internationale Handel im Kapitalismus zuerst entwickelten, bevor sie sich im Inneren eines Landes festsetzten. Als Weltgeld übernimmt es die Funktionen des internationalen Wertmaßes, des Kauf- und Zahlungsmittels und auch die der Währungsreserve. Damit verbunden war die Herausbildung des Gegensatzes von industriellen Werkstätten und Rohstofflieferanten aber auch des Gegensatzes der industriellen Metropolen untereinander. Es entwickelten sich Hegemonialverhältnisse mit einer an der Spitze stehenden Hegemonialmacht, die sie aufgrund ihrer überlegenen Produktivität der Arbeit hatte. Es lassen sich dabei zwei Entwicklungsepochen unterscheiden, einmal die Ära Großbritanniens im 19.Jahrhundert bis zum 1.Weltkrieg und die Ära der USA bis zur Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Seitdem findet ein Suchprozess mit noch unklaren Hegemonialverhältnissen statt. Unter dem Aspekt von Geld und Währung ist festzustellen, dass in der Ära Großbritanniens das Pfund Sterling sowie der Wechsel auf London dominierten. Es war die Zeit des Goldstandards, das heißt, der Umlauf der Noten war an Deckungsvorschriften durch die Goldreserve der Notenbanken gebunden. Die Goldreserve war also Weltgeldschatz und nationaler Banknotendeckungsfonds. Ein Konflikt entstand insbesondere in Krisensituationen, wenn ein Goldabfluss stattfand und Krisen verschärft wurden. Der Gestaltungsspielraum der Zentralbanken für die Geldmenge und die Wechselkurse ging gegen Null. Die Zeit zwischen den Weltkriegen war durch einen modifizierten Goldstandard gekennzeichnet (Gold-Devisen-Standard).Es kam in dieser Zeit zu diversen sozialen Erschütterungen und Krisen und zu einer neuen internationalen Hegemonieverteilung. Großbritannien verlor die industrielle Vorherrschaft, verteidigte aber sein internationales Finanzzentrum der Londoner City. Die USA entwickelten mit dem Fordismus eine neue gesellschaftliche Betriebsweise, sie wurden zur größten Gläubigernation und der US-Dollar wurde im Rahmen des sogenannten Bretton-Woods-Systems zur neuen Weltwährung. Der US-Dollar wurde zur einzigen Währung mit einer festen Parität zum Gold und die beteiligten Mitgliedsländer hielten ihre Wechselkurse untereinander stabil und besaßen damit auch indirekt ein Verhältnis zum Gold. Zudem wurde eine strenge Kontrolle der Finanzmärkte ausgeübt. Alle wichtigen Währungen hatten keine Deckungsvorschriften gegenüber ihren Goldbeständen mehr, es waren inkonvertible Zentralbanknoten gegeben. Dieses Bretton-Woods -System behielt seine vorläufige Festigkeit aufgrund folgender Faktoren:
1.Die US-Ökonomie war durch ihre Arbeitsproduktivität und ihre Gläubigerstellung den anderen Nationen überlegen.
2. Die wichtigsten Metropolen des Kapitals hatten ein beschleunigtes Wirtschaftswachstum aufzuweisen.
3. Die Goldproduktion in Südafrika vermehrte sich rasch und der Goldwert entwickelte sich in ähnlichem Verhältnis wie der Warenwert in den Metropolen des Kapitals.
Das ging etwa 30 Jahre gut, in denen insbesondere durch die Bundesrepublik und Japan eine Konkurrenz zur US-Ökonomie entstand. Auf den Finanzmärkten kam es zur Spekulation gegen den US-Dollar, die US-Währungsbehörde konnte die Goldeinlösungspflicht nicht mehr gewährleisten. Das Bretton-Woods-System brach zusammen und in den kapitalistischen Staaten kam es zu einer bis heute anhaltenden strukturellen Überakkumulation. Das bedeutet, dass der Fall der durchschnittlichen Profitrate nicht mehr durch eine erhöhte gesellschaftliche Profitmasse ausgeglichen werden kann. Ein Teil der privaten Kapitale geriet auf die Bahn der Abenteurer, es wurde versucht, durch Spekulationen an den Börsen und Immobilienmärkten dem Untergang zu entgehen. Es ist augenblicklich kein neues Währungssystem mit einer umfassenden gesellschaftlichen Regulierung in Sicht. Der zurzeit bestehende Modus vivendi ist folgendermaßen charakterisiert:
1.Das Gold bleibt bei Privaten Anker gegen ökonomische Unsicherheit, aber auch als Währungsreserve bei Nationalbanken. Allerdings sind die Goldreserven der Nationalbanken immobilisiert, also in den Schatzkammern geblieben, und übernehmen nur die Funktion des Rettungsankers bei einer tiefgehenden Erosion der Währungsverhältnisse und Instabilität der Finanzmärkte.
2.Die Goldreserven wurden mit der EZB zu Marktpreisen bilanziert, gleichwohl wurde bis zur Coronakrise verhindert, eine erweiterte Zentralbankgeldschöpfung auszuüben.
3. Die Devisenreserven fungieren als Zahlungsmittel zwischen den Geschäftsbanken. Die binnenwirtschaftliche Geldmenge wird durch die nationale Devisenbilanz und damit die Wechselkurse verändert. Es zeigt sich, dass die Spielräume der Zentralbanken größer sind in Zeiten flexibler Wechselkurse.
4.Die Geldpolitik konzentrierte sich auf die Sicherung des Geldwertes und weniger auf die Sicherung der Wechselkurse. Damit verselbständigten sich auch Warenpreise und Wechselkurse von ihrer goldenen Grundlage.
Zusammengefasst: Eine komplette Loslösung vom Gold ist im Kapitalismus nicht möglich. Allerdings gelingt es durch eine entsprechende Ausgestaltung das Geld/Kredit und Bankverhältnisse den Einfluss der Wertentwicklung des Goldes auf Preise und Wechselkurse im normalen Gang der Verhältnisse weitgehend auszuschließen. Das nennt man Idealisierung des Goldes als Geld im Gegensatz zur Demonetisierung, bei der das Gold ganz aus dem Verkehr gezogen werden soll. Historisch hat sich das moderne Repräsentativgeld aus der Banknote entwickelt und mit dem Übergang der Notenausgabe auf die Zentralbank vollzog sich eine Verschmelzung mit dem Staatspapiergeld zum Wertzeichen. Heute ist das Zentralbankgeld eine Symbiose aus Wertzeichen und Kreditgeld. Das Wertzeichen tritt in die Zirkulation ein durch die Devisenbilanz, also bei Zunahme der Währungsreserven und tritt wieder aus durch Verminderung der Währungsreserven. Das Kreditgeld dagegen entsteht durch die Kreditgeschäfte der Zentralbank mit den Geschäftsbanken. Das Zentralbankgeld wird ersetzbar durch Bankdepositen, also durch Ersatz von Bargeld durch Buchgeld. Diese verschiedenen Bestandteile der Geldmenge werden folgendermaßen zum gesetzlichen Zahlungsmittel:
1.Der Ausgangspunkt ist der Außenwert der nationalen Währung in Gold. Die Währungsreserven verändern den Umfang der umlaufenden Wertzeichen als Wertmaß.
2. Mit den Wertzeichen ist zugleich der andere Teil der Geldmenge, das Kreditgeld, zum gesetzlichen Zahlungsmittel erhoben (Denomination).
3. Das Ende der Kette bilden die Depositen, die das Bargeld ersetzen können.
Bei den Wertzeichen erfolgt keine Anpassung an die Warenseite. Sie verbleiben so lange in der in der Zirkulation bis sie exogen abgebaut werden. Das ist anders beim Kreditgeld und Buchgeld. Hier findet eine Anpassung an den Warenverkehr statt. Es entsteht eine wesentliche Steuerungsmöglichkeit der Zentralbank, sie kann die ungewollte Geldschöpfung durch die Wertzeichenzirkulation konterkarieren. Die Kreditgeldschöpfung baut sich demgegenüber durch das Ende des Kreditgeschäftes ab. Damit ist gesagt, dass der Unterbau der Geldzirkulation durch die Zentralbank in Grenzen gesteuert werden kann. Das kann empirisch anhand der Bundesbankpolitik und später auch der EZB-Politik nachgewiesen werden.
(1)Die Grundlage des Aufsatzes ist Text von: Ansgar Knolle-Grothusen, Stephan Krüger und Dieter Wolf, Geldware, Geld und Währung, Hamburg 2009, S.218-238.
Entwicklung und Ende des Kapitalismus
Dr. Peter Behnen
Die Linke Freiburg
DIE ENTWICKLUNG UND DAS ENDE DES KAPITALISMUS (1)
Interessant ist, dass, wenn über die Zukunft des Kapitalismus gesprochen wird, auch von bürgerlicher Seite wieder verstärkt über Karl Marx und „Das Kapital“ gesprochen wird. Es ist heute selbstverständlicher als in den Nachkriegsjahren und der Zeit des Kalten Krieges geworden, grundsätzlich über den Kapitalismus nachzudenken und über seine Zukunftschancen zu diskutieren. In der Regel wird Marx als großer Philosoph wahrgenommen, weniger jedoch als jemand, der die ökonomische Struktur dieser Gesellschaft dargestellt hat. Das soll jedoch hier nicht geschehen geschehen, es soll von meiner Seite auf Basis der Marxschen Theorie die Zukunft des Kapitalismus näher beleuchtet werden. Entsprechend soll, hoffentlich in verständlicher Form, zuerst die Kernstruktur des Kapitalismus, dann seine historischen Betriebsweisen, dann kurz die Frage des digitalen Kapitalismus und zum Schluss die Bewusstseinsformen vieler Bürger und die Möglichkeit der Überwindung des Kapitalismus dargestellt werden. Nähere Definitionen erfolgen in den einzelnen Abschnitten.
Die Kernstruktur des Kapitalismus
Marxens Anspruch war, die ökonomischen Bewegungsgesetze der bürgerlichen Gesellschaft zu ergründen, das heißt, nach welchen Gesetzen diese Wirtschaftsordnung funktioniert. Im Gegensatz zur bürgerlichen Ökonomie geht es in der Marxschen Theorie darum, das Spezifische der gesellschaftlichen Arbeit und ihre Verteilung auf das gesamte ökonomische System zu erfassen. Da wir in einer warenproduzierenden Gesellschaft leben, dient die Ware als Ausgangspunkt der Betrachtung. Jede Ware hat eine doppelte Bestimmung, sie ist Gebrauchswert und Wert. Einerseits muss sie einen Gebrauchswert haben, damit der Warenkäufer etwas damit anfangen kann, sie hat außerdem einen Wert, das heißt, sie ist als ein Teil der gesellschaftlichen Arbeit zu betrachten. Im Gegensatz zum Gebrauchswert der Ware, den jeder Mensch direkt erfahren kann, zum Beispiel man kann sich mit dem Auto fortbewegen, ist der Wert als Teil der gesamten gesellschaftlichen Arbeit eine gesellschaftliche Qualität, die nicht direkt an der Ware fassbar ist. Sie stellt sich dann in ihrem Tauschwert also in einem Geldbetrag dar. Marx gräbt tiefer und geht auf die gesellschaftliche Arbeit zurück. Die Arbeit, soweit sie einen Gebrauchswert erstellt, bezeichnet er als konkret-nützliche Arbeit und die gleiche Arbeit, die sich im Wert darstellt, nennt er allgemein gesellschaftliche Arbeit. An dieser Stelle wurde häufig die Forderung erhoben, Marx müsse seinen Wertbegriff beweisen. Marx weist das zurück und sagt, dass es um gesellschaftliche Arbeit gehe, die in jeder Gesellschaft in einer gewissen Anzahl von Arbeitsstunden gegeben sei und entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen auf verschiedene Wirtschaftssektoren verteilt werden müsse. In der warenproduzierenden kapitalistischen Gesellschaft sei es eben der Wert der Waren, über den die Verteilung der zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Arbeitsstunden vorgenommen werde.
Marx kommt in seinem Forschungsprozess zu der Einsicht, dass auch die Arbeitskraft als Ware fungiere, also wie jede andere Ware auch am Markt von der Arbeiterin bzw. Arbeiter zu verkaufen sei. Der Kapitalist kauft die Ware aber nicht, wenn sie ihm keinen Mehrwert abwirft. Was heißt das? Das geschieht im Produktionsprozess, in dem der Arbeitstag in die notwendige und Mehrarbeitszeit geteilt wird, ohne dass das den Beteiligten bewusst wird. In der notwendigen Arbeitszeit, zum Beispiel 4 Stunden, wird vom Arbeitenden der Gegenwert für den Wert seiner Ware Arbeitskraft, die vom Kapitalisten mit dem Lohn vergütet wurde, geschaffen und in der verbleibenden Mehrarbeitszeit der Mehrwert, den sich der Kapitalist unentgeltlich aneignet. Der Mehrwert kann ausgeweitet werden durch die Verlängerung des Arbeitstages und der Mehrarbeitszeit oder durch die Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit vermittels der Produktivkraftentwicklung oder technischen Entwicklung. Dem Kapitalisten geht es nur um diesen Mehrwert, nur deswegen lässt er überhaupt produzieren. Er eignet sich den Mehrwert unentgeltlich an, das nennt Marx die Ausbeutung des Arbeitenden. Die Aneignung des Mehrwertes wird verschleiert, weil der an den Arbeitenden gezahlte Arbeitslohn angeblich die Arbeit entlohnt und nicht die Arbeitskraft. Schon der Begriff Arbeitslohn ist irreführend, es wird nicht die Arbeit entlohnt, sondern der schon vorher vollzogene Verkauf der Arbeitskraft. Wenn der Arbeitende zu arbeiten beginnt, gehört ihm die Arbeitskraft gar nicht mehr, sondern der Kapitalist kann sie für seine Produktion verwenden.
An der Oberfläche der Gesellschaft, treten sich die Beteiligten des Wirtschaftslebens als angeblich selbstbestimmte Warenbesitzer gegenüber. Sie erhalten für ihre angebliche Leistung jeder ein bestimmtes Einkommen, der Arbeiter den Lohn, der Kapitalist den Profit bzw. Zins und der Grundeigentümer die sogenannte Grundrente. Jeder dieser Produktionsfaktoren erhält für die Wirtschaftsakteure scheinbar ein ihrer Leistung entsprechendes Einkommen. Im Gegensatz dazu galt es für Marx den komplizierten Zusammenhang von der Mehrwertproduktion. der immer wieder neuen Reproduktion des Ausbeutungsverhältnisses und der Oberfläche der Gesellschaft zu entschlüsseln. Der Kreislauf beginnt mit dem Verkauf der Arbeitskraft in der Zirkulation, geht weiter in der Produktion, die den Mehrwert abwerfen muss, um dann am Markt realisiert zu werden und den Kreislauf von neuem beginnen zu können. Der Kreislauf wird immer wieder durch Krisen unterbrochen, die für die Arbeiterklasse und Lohnabhängigen allgemein Anknüpfungspunkte für die Entwicklung von Klassenbewusstsein erbringen können aber nicht unmittelbar müssen, das sehen wir gerade heute. Die Entwicklung von Klassenbewusstsein ist deswegen schwierig, weil der Großteil der Bürger bzw. Lohnabhängigen durch die Struktur der Gesellschaft dem Schein unterliegt, für die Schöpfung und Verteilung des Reichtums sei die eigene Leistung maßgebend. Diese Bewusstseinsform gilt es aufzulösen, wenn man andere Verteilungsverhältnisse, andere Strukturen sozialer Sicherheit und eine andere staatliche Ausgabenpolitik auf Dauer erreichen will. Diese Bewusstseinsentwicklung muss die Arbeitszeiten und eine neue Einkommens- und Vermögensentwicklung in den Fokus nehmen und schließlich zur Erkenntnis führen, dass die Einkommens- und Vermögensverteilung nur die Kehrseite der Verhältnisse in der Produktion ist. Das wird nur Schritt für Schritt geschehen können. Aus der Sicht von Marx bricht die kapitalistische Ordnung nicht einfach zusammen, sondern es entstehen materielle und geistige Bedingungen der Überwindung des Kapitalismus, vor allem hervorgerufen durch die Entwicklung der Produktivkräfte (technische Entwicklung) und einschneidenden Krisen. Dann könne ein „enormes Bewusstsein“ entstehen, das zu einer Weiterentwicklung führe. Die Vorstellung bei einigen historischen Vertretern der Arbeiterbewegung, eine schnelle Abschaffung der Warenproduktion und des Geldes und ihr Ersatz durch die Steuerung des Wirtschaftslebens durch eine zentrale Planungsbehörde war schon immer absurd und hat, wie der reale Sozialismus gezeigt hat, zu katastrophalen Ergebnissen geführt. Die Probleme bei der Versorgung der Bürger in der DDR und anderen Staaten des Realsozialismus, die langsamere technische Entwicklung und vor allem die Rücknahme von Freiheitsrechten der Bürger ist uns allen noch im Gedächtnis.
Historische Betriebsweisen des Kapitalismus.
Nach der Betrachtung wichtiger Punkte der Kernstruktur des Kapitalismus muss es nun darum gehen, die kapitalistische Wirtschaftsordnung in eine lange historische Kette von verschiedenen Betriebsweisen einzuordnen. Was ist damit gemeint?
Marx versteht unter einer Betriebsweise einerseits den Produktionsprozess mit einem ihn dominierenden technischen Prozess. Darüber erhebt sich dann ein bestimmter Überbau, das heißt, eine entsprechende Struktur des Staates und des Rechtswesens und eines bestimmten gesellschaftlichen Bewusstseins. Also der Begriff der Betriebsweise beinhaltet einen ganzen Gesellschaftsmechanismus, aber die Grundlage bleibt immer die Organisation und technische Form des Produktionsprozesses.
Die erste Betriebsweise des Kapitalismus war die große Industrie des 19.Jahrhunderts mit dem Einsatz von Maschinen. Sie differenziert die betriebliche und gesellschaftliche Arbeitsteilung, erfordert neue Transport- und Kommunikationsmittel (Eisenbahn, Elektrizität, Telefonie) und ist mit einer Fabrikgesetzgebung, der Erkämpfung des 10-Stunden-Tages sowie mit Auswirkungen auf die Bildungseinrichtungen und Familienstrukturen verbunden. Diese Entwicklung begann in Großbritannien und zeitversetzt dann auch in den USA und dem Deutschen Reich.
Die zweite industrielle Betriebsweise entwickelte sich nach dem 1.Weltkrieg in den USA mit dem sogenannten Fordismus. Der Name weist auf die Automobilproduktion von Ford hin. Es kam zur Fließbandproduktion, also zu einer neuen innerbetrieblichen Arbeitsteilung mit Massenproduktion. Es ging auch um den Verkauf dieser massenhaften Produktion. Gewerkschaften und arbeitnehmerorientierte Parteien wurden zu wichtigen Akteuren der Zivilgesellschaft und der Sozialstaat erfuhr einen erheblichen Ausbau. Der Fordismus als zweite Betriebsweise des Kapitalismus wurde später auch als das goldene Zeitalter des Kapitalismus bezeichnet, unter anderem auch deswegen, weil seit 1944 mit dem Bretton-Woods- System ein internationales Weltwährungssystem etabliert wurde. Der US-Dollar wurde die zentrale Weltwährung, er war gegen Gold umtauschbar und die dem System angeschlossenen Länder hielten die Kurschwankungen ihrer Währungen in engen Grenzen. Die Finanzmärkte wurden streng kontrolliert. Auf dem Weltmarkt dominierten die USA,
Die Erosion der US-Hegemonie begann schon in den 60er Jahren vor allem durch die Konkurrenz der Ökonomien der Bundesrepublik und Japans. Wichtiger war jedoch, dass für alle kapitalistischen Länder ein Fall der durchschnittlichen Profitrate (Verhältnis von Profit zu eingesetztem Kapital) wirksam wurde bei gleichzeitigem langsamerem Wachstume der gesellschaftlichen Profitmasse. Das soll anhand eines Zahlenbeispiels erklärt werden.
Zahlenbeispiel:
Definitionen: m= Mehrwert c=konstantes Kapital (Maschinen, Rohstoffe, Grundstücke etc.) v= variables Kapital (Arbeitskräfte).
Profitrate= m/c+v
m entsteht durch Mehrarbeitszeit von v im Produktionsprozess. C wächst schneller als v wegen Steigerung der Arbeitsproduktivität.
Ausgangslage: m =100 c=50 v= 50 daraus folgt: Profitrate 100%
Prosperierender Kapitalismus: c und v wachsen beide z.B. c um 20% und v um 10% daraus folgt: m=110 v=55 c=60 Profitrate =95,6%
Die Profitrate ist gefallen, aber die Profitmasse ist wegen der Steigerung von v auf 110 gewachsen. Es ist eine erweiterte Reproduktion möglich.
Strukturelle Überakkumulation: c wächst weiter und v stagniert, zum Beispiel c um 10% und v um 0%. Daraus Folgt m=110 c=66 v=55 Profitrate= 90,9%.
Die Profitrate ist weiter gefallen, die Profitnasse stagniert, weil v stagniert. Ein Teil des Kapitals geht unter und ein weiterer Teil weicht auf die Finanzmärkte aus wegen der Kurssteigerungen bei Wertpapieren und Immobilien. Spekulationsgeschäfte blühen und Finanzmärkte überhitzen. Die Finanzkrisen sind das Ergebnis und eine strikte Regulierung der Finanzmärkte wäre notwendig.
Deutlich wurde das Ende der Nachkriegsprosperität an der Weltwirtschaftskrise 1974/75. Das Bretton-Woods-System brach zusammen. Von marxistischer Seite wurde schon sehr früh von einer strukturellen Überakkumulation gesprochen. Das bedeutet, dass die Profitrate tendenziell fiel, was noch kein Problem war, solange durch steigende Kapitaleinsätze die Profitmasse noch weiter wuchs. Als aber die Profitmasse ab der Mitte der 70er auch langsamer wuchs, begann die Flucht auf die Finanzmärkte. Die Konsequenz, die viele Kapitalisten zogen, war, dass sie ihr Kapital umlenkten auf die Finanz- und Immobilienmärkte, in der Hoffnung durch Kurssteigerungen bei Wertpapieren und durch Spekulation an Börsen und bei Immobilien dem Niedergang ihres Kapitals zu entgehen. Das Resultat war eine wirtschaftliche Scheinblüte und die Finanzkrise 2007/2008. Auch eine ultralockere Geldpolitik, also eine massive Überschwemmung der Wirtschaft mit Finanzmitteln der Zentralbanken, führte nicht zu einem beschleunigten Wirtschaftswachstum, die wichtigste Voraussetzung für eine neue Betriebsweise. Es ist zu sehen, ob das mit dem digitalen Kapitalismus gelingen kann.
Der digitale Kapitalismus
Die Produktivkraftentwicklung (technische Entwicklung) im Kapitalismus mit einer neuen Form der Arbeitsteilung wurde auf eine neue Stufe gehoben durch die Bildung von Netzwerken, genannt Plattformökonomie. Plattformunternehmen wie Google, Facebook, Amazon, Uber und Airbnb erhielten ein besonderes Gewicht. Wir bekommen das im Privatleben und Arbeitsleben hautnah mit. Es findet auf diese Weise eine Rationalisierung statt, die allerdings mit Problemen verbunden ist.
1.Cloud und Clickworker können an verschiedenen Orten der Welt tätig sein. Es fehlt der direkte Kontakt der Beschäftigten zueinander und führt eventuell zur Untergrabung von solidarischem Verhalten
2.Es entsteht als Folge eine Fragmentierung der Belegschaft
3.Es ist Home-Office möglich mit einerseits mehr Freiheitsspielräumen aber auch der Gefahr der Selbstausbeutung
Es wird damit notwendig, eine erweiterte Mitbestimmung der Beschäftigten durchzusetzen, eventuell mit Untermauerung durch eine Beteiligung am Produktivkapital (Maschinen, Rohstoffe, Grundstücke). Damit kommt man zur entscheidenden Frage der kapitalistischen Produktionsweise. Plattformökonomien steigern die Produktivkräfte wie gehabt durch die Einsparung lebendiger Arbeit und auch beim Maschineneinsatz. Der Fall der durchschnittlichen Profitrate wird aufgehalten durch verlängerte Arbeitszeiten inzwischen aber auch durch Verlangsamung der Produktivitätssteigerungen. Die strukturelle Überakkumulation wird jedoch nicht überwunden, im Gegenteil, die Geldpolitik der Zentralbanken stachelt die Wertpapierkurse und die Spekulation an. Das Kredit- und Banksystem kommt ins Wanken und wichtige Währungen (Dollar, Euro etc.) werden geschwächt. Da die Profitraten unzureichend gesteigert werden, gelingt auch kein Übergang in eine neue dritte Betriebsweise des digitalen Kapitalismus.
Die Schlussfolgerung ist, dass eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte durch Zurückdrängung der kapitalistischen Produktionsweise und der Profitrate als Steuerungsinstrument erfolgen muss. Angesagt ist eine gesamtgesellschaftliche Rahmenplanung, erweiterte Mitbestimmung der Beschäftigten und Verwirklichung einer Wirtschaftsdemokratie. Die Frage ist allerdings: Wie kann das gesellschaftliche Bewusstsein sich so verändern, dass dieser Weg gegangen werden kann?
Die Entwicklung eines gesellschaftsverändernden Bewusstseins
Es ist damit zu beginnen, was Marx als „ökonomische Alltagsreligion“ be-zeichnet hat. Fest steht, dass die Lohnarbeit das strukturierende Element für den Lebensalltag der meisten Haushalte ist. Die Mitglieder vieler Haushalte unterliegen bestimmten bewusstseinsmäßigen Verdrehungen (Mystifikationen) Die gesellschaftliche Wertschöpfung in der Produktion erscheint für sie als das Resultat des Zusammenwirkens verschiedener Einkommensbezieher, der Arbeiter, Kapitalisten und Grundeigentümer. Sie sehen sich als freie und selbstbestimmte Wirtschaftssubjekte. Wenn ein gewisses Maß an Umverteilung von Einkommen- und Vermögen stattfand, hat das auch ihre Freiheitsspielräume erweitert. Kultur und staatlicher Überbau verfeinerten sich und erhöhten individuelle Spielräume. Dieser Prozess, der auch noch im Finanzmarktkapitalismus der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts stattfand, beherbergt aber auch Widersprüche. Durch die Marktöffnung in verschiedenen Bereichen ergab sich eine zunehmende soziale Unsicherheit. Beschäftigte wurden aufgefordert, in Zukunft selbstverantwortlicher zu handeln und wurden dadurch ein dankbares Objekt von Über- und Unterordnungsstrategien, ohne, wie noch im Fordismus, sozial aufgefangen zu werden. Alle Macht den Märkten wurde die Devise. Versprechen, die noch die alte soziale Marktwirtschaft gegeben hatte (z. B. Leistung wird sich lohnen, jeder ist seines Glückes Schmied etc) wurden untergraben. Teile der Mittelklasse und auch der Arbeiterklasse waren besonders betroffen und wurden empfänglich für rechtspopulistische Versprechen. Die Corona-Krise erzwang allerdings eine zeitweilige Abwendung von der Politik der Marktöffnung und eine massive staatliche Verschuldung zur Abwehr der Krisenfolgen. Es wird jedoch darauf ankommen, dass nach der Coronakrise nicht zur neoliberalen Politik zurückgegangen wird und die Lasten der Krise nicht wieder bei Lohnabhängigen und Sozialleistungsempfängern der Gesellschaft abgeladen werden.
Aber es entstanden auch Ansatzpunkte für eine linke Politik insbesondere im Rahmen der Erwerbsarbeit, beim Wohnen, bei Bildung, bei der Umweltpolitik und bei Gesundheit und Pflege auch wegen und nach der Coronakrise.
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Somit gilt es neben der Wirtschaftsdemokratie den ökologischen Umbau, ressourcensparende Produktqualität, Gruppenarbeit und enthierarchisierende Arbeitsprozesse jenseits des privaten Profitmotivs zu verwirklichen. Das wird nicht gehen ohne das private Eigentum an Produktionsmitteln zurückzudrängen.
Die neue Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wird ein demokratischer Sozialismus und eine sozialistische Marktwirtschaft sein müssen. Dabei sind eine klare Ablehnung und Aufarbeitung der Fehler des sogenannten realen Sozialismus unbedingt notwendig. Nur so werden Ressentiments gegen eine sozialistische Politik angegangen werden können und der Kampf gegen den Rechtspopulismus erfolgreich sein.
(1)Für den Aufsatz wurde der Text von Bischoff u.a. Die Anatomie und Zukunft der bürgerlichen Gesellschaft, Hamburg 2018, zur Grundlage genommen.
Sahra Wagenknecht und der Gemeinsinn
DIE LINKE FREIBURG
DR.PETER BEHNEN
SAHRA WAGENKNECHT UND DIE GESELLSCHAFT FÜR GEMEINSINN UND ZUSAMMENHALT.
Neoliberales Denken beherrscht das Denken und Handeln der Wirtschaft und Politik spätestens seit der Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Kostensenkungen bei Unternehmen und Sparpolitik des Staates, insbesondere bei der Sozialpolitik, sind seitdem Trumpf. Umso wichtiger ist es, dass die Partei „Die Linke“ theoretisch gut begründete Vorschläge zur Bekämpfung des Neoliberalismus vorlegt. Die theoretische Grundlage sollte dabei der Rückgriff auf die Marxsche Theorie als Leitfaden und auch bestimmte Elemente der Keynesschen Theorie sein.
Sahra Wagenknecht hat nun in größeren Texten aus den Jahre 2011, 2016 und 2021 versucht, einen Beitrag zur theoretischen und politischen Positionierung der Linken zu leisten. In ihrem Text „Freiheit statt Kapitalismus“ von 2011 stellte Sahra Wagenknecht fest, dass ein großer Teil der Bevölkerung sich eine neue Wirtschaftsordnung wünsche aber keine politische Kraft sehe, der eine systemverändernde Politik zugetraut werde. Sie kam allerdings nicht zu dem Ergebnis, dass es nun auf Basis der Marxsche Theorie oder der Theorie von Keynes darauf ankomme, einen Minimalkonsens zwischen verschiedenen linken Ausrichtungen zu erreichen. Im Gegenteil, sie versuchte „an einer progressiv-bürgerlichen Zivilisierung des Kapitalismus anzusetzen, die zu radikalisieren und ihr so eine neue kreativ sozialistische Eigentumsordnung abzuringen.“ (1) Sie wollte dabei Begriffe wie Leistung und Wettbewerb nicht der bürgerlichen Seite überlassen und wollte anknüpfen an Vertreter des „guten Ordoliberalismus“ wie Ludwig Erhard, Alfred Müller-Armack und Wilhelm Röpke. Sahra Wagenknecht stand und steht auch heute für eine Eigentumsordnung, in der nicht Großunternehmen und das Finanzkapital im Vordergrund stehen und traf damit mit Vorstellungen und Positionen des Ordoliberalismus zusammen. Gut geführte, erfolgreiche und leistungsfähige Familienunternehmen galten ihr als Gegenentwurf zu renditeorientierten Großunternehmen. Das Problem bei Sahra Wagenknecht war schon damals, dass sie den Übergang in eine neue Eigentumsordnung anhand von klassischen Familienunternehmen präsentierte und insoweit einen Kapitalismus vor Augen hat, der auch beim Ordoliberalismus als Idealbild des Kapitalismus auftritt. Sie nahm nicht zur Kenntnis, dass im Kapitalismus gesetzmäßig eine Trennung von Eigentum und Funktion bis hin zu Aktiengesellschaften und großen Finanzunternehmen stattfindet. Das hatte Marx schon klar erkannt, und darauf hingewiesen, dass kein Idealbild des Kapitalismus zu zeichnen ist, ein Idealbild, dass durch die Struktur des Kapitalismus bedingt an der Oberfläche der Gesellschaft erscheint. Insoweit ist es Aufgabe linker Politik, Vorschläge zu machen, wie die Beschäftigten in den Kapitalgesellschaften die ökonomische Entwicklung teilweise oder ganz bestimmen können.
Mit Sahra Wagenknechts Text „Reichtum ohne Gier“ von 2016 wurde auch von bürgerlicher Seite als politische Botschaft erkannt, dass eine Abwendung von der EU, dem Euro und eine Rückkehr zum Nationalstaat von ihr propagiert wurde. Sie verfolgte weiter das Ideal der kleinen Einheiten und des vollständigen Wettbewerbs. Das Anknüpfen an Vorstellungen des Ordoliberalismus führte sie zur Aufgabe des Marxschen „Kapital“ als Anknüpfungspunkt der theoretischen Analyse. Marx hatte viel Mühe darauf verwendet um zu zeigen, wie durch den Verkauf der Arbeitskraft Mehrwert produziert wird, der Arbeitstag in notwendige und Mehrarbeitszeit unterteilt wird und der produzierte Mehrwert vom Kapitalisten, ob als Familienunternehmer oder durch die Aktiengesellschaft, angeeignet wird. Dieses Ausbeutungsverhältnis, das jedem kapitalistischen Produktionsprozess inhärent ist, wird durch die Struktur des Kapitalismus verschleiert, insbesondere auch durch die Kategorie des Arbeitslohnes. Es entsteht die Illusion, dass die geleistete Arbeit vergütet werde und nicht die Arbeitskraft des Arbeitenden. Auf dieser Bewusstseinsebene schwimmen Kapitalisten, Politiker und auch ein großer Teil der Bevölkerung einschließlich der Lohnabhängigen. Sahra Wagenknecht unterließ es auch in ihrem Text von 2016, sich bei der Erklärung von Bewusstseinsformen auf die Struktur des Kapitalismus einzulassen. Es fällt auf, dass sie auch auf kritische Beiträge von Wissenschaftlern, auch Nichtmarxisten, zum Beispiel Polanyi oder Keynes selten zurückgreift, was ihr den Vorwurf eingebracht hat, einen linken Autismus zu betreiben.
In ihrem jüngsten Text „Die Selbstgerechten“ von 2021 beginnt sie damit, sogenannte Lifestyle-Linke zu benennen, die die soziale Frage nicht mehr im Fokus ihrer Politik hätten, sondern sich mehr auf Themen wie Klima, Emanzipation von Frauen, Zuwanderung und sexuelle Minderheiten konzentrierten. Zu diesen Lifestyle-Linken zählt Sahra Wagenknecht MitgliederInnen ganz verschiedener Parteien. „In Reinform verkörpern die grünen Parteien dieses Lifestylelinke-Politikangebot., aber auch in den sozialdemokratischen, sozialistischen und anderen linken Parteien ist es in den meisten Ländern zur dominanten Strömung geworden.“ (2) Sahra Wagenknecht bringt im ersten Teil ihres Buches eine Vielzahl von Themen zur Sprache verbunden mit ihrer Sicht auf und Kritik an diesen linken Strömungen. Auch in der Partei „Die Linke“ werden wohl eine Vielzahl ihrer Positionen geteilt werden können, eventuell auch im Parteiprogramm der Partei nachlesbar. Richtig ist natürlich, dass neoliberales Denken und Handeln bis heute die Politik beherrschen und es darauf ankommt, die Lebensverhältnisse der Unterprivilegierten zu verbessern. Das gelingt allerdings nur, wenn verschiedene linke Strömungen zusammengebracht werden und, wie bereits erwähnt, ein linker Minimalkonsens erreicht wird. Dabei hat die Partei „Die Linke“ die wichtige Funktion, vorwärtstreibende Reformen zu unterstützen und immer wieder die Grenzen der Reformpolitik im Kapitalismus aufzuzeigen. Das ist dann auch theoretisch zu begründen. Es ist zu sehen, welche theoretische Position Sahra Wagenknecht in ihrem neuen Text vorbringt und ob die Marxsche Theorie und die Theorie von Keynes nun einen besonderen Stellenwert als Leitfaden besitzen.
Hier ihr Originalton: „Wer nicht ins 19.Jahrhundert zurück möchte, für den kann es nur einen Weg geben: Wir müssen nicht anders konsumieren, sondern vor allem anders produzieren.“ (3) Dabei geht es ihr aber nicht um die Abwendung von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen im Marxschen Sinne, sondern um neue technische Lösungen. Es geht ihr um eine „echte Leistungsgesellschaft“, eine gute Leistung soll zu Eigentum führen und jedem ein gutes Leben und sozialen Aufstieg ermöglichen. Die Rechtsform der Kapitalgesellschaft als Unternehmensform leiste das nicht und kommt damit zurück zum Ideal des Familien- und Eigentümerunternehmers. „Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß.“ (4) Da hört man bei ihr nichts davon, dass auch diese Unternehmer bzw. Unternehmerinnen Kapitalisten sind und nur durch den Mehrwert der Arbeitenden groß werden. Auch für Unternehmen mit Leistungseigentum komme es auf eine Wirtschaft mit Wettbewerb und einer Entflechtung großer Konzerne an. Zudem gehe es darum, die Übermacht des Finanzsektors zurückzudrängen und eine andere Finanzordnung zu schaffen. Das ist zwar richtig wird aber nur gehen, wenn auch die zu Grunde liegende Produktion des Mehrwerts zurückgedrängt wird. Dazu wäre es notwendig, den Zusammenhang der Mehrwertproduktion, die strukturelle Überakkumulation des industriellen Sektors seit den 70er Jahren und die Aufblähung des Finanzsektors zu erkennen. Damit ist gemeint, dass es seit den 70er Jahren im Kapitalismus nicht mehr gelingt, den tendenziellen Fall der Durchschnittsprofitrate durch ein schnelleres Wachstum der Profitmasse zu kompensieren. Nicht mehr jedes industrielle Kapital kann sich rentierlich verwerten und es werden viele Kapitalisten auf den Weg der Abenteurer an den Finanzmärkten gedrängt. Sie versuchen ihrem Untergang durch die Steigerung der Kurse an den Börsen und Immobilienmärkten und Spekulationsgewinne zu entgehen. Die entfesselte Marktgesellschaft wird allerdings nicht allein durch die Propagierung von Gemeinsinn und Zusammenhalt zu stoppen sein, so wichtig das auch ist, sondern nur durch die Vorstellung von nachvollziehbaren Schritten zu einer wirtschaftsdemokratischen Ordnung. Ein fortschrittlicher Gegenentwurf muss darin bestehen, nicht weiter auf den Wettbewerbskapitalismus zu setzen, sondern auf eine sozialistische Marktwirtschaft und einen demokratischen Sozialismus. Da wird die Partei „Die Linke“ einen wichtigen Beitrag im Rahmen einer linken Zusammenarbeit leisten müssen. Mit einer Verunglimpfung anderer linker Ansätze und Bewegungen ist keinem gedient, sondern ist politisch kontraproduktiv. Das heißt aber auch, dass im neuen Text von Sahra Wagenknecht eine Vielzahl richtiger Einsichten und Positionen formuliert werden, die sich die Partei „Die Linke“ zu eigen machen müsste oder schon zu eigen gemacht hat, selbst wenn sie bei Wagenknecht unpräzise und zum Teil missverständlich vorgetragen werden.
(1)Joachim Bischoff und Christoph Lieber: Zeitschrift Sozialismus 7/8 von 2011 S.40
(2) Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten, Frankfurt am Main 2021, S.25
(3) a.a.O. S.290
(4) a.a.O. S.293