Die grüne Wende?

25. November 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

                  BRINGEN DIE GRÜNEN DIE POLITISCH-SOZIALE WENDE?

Die Grünen haben das erste Mal einen komplett digitalen Parteitag durchgeführt. Es ging um die Verabschiedung eines neuen Grundsatzprogramms. Der Entwurf war schon seit Ende Juni der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Wie Annalena Baerbock betonte, soll es ein Programm für „die Breite der Gesellschaft“ sein. Die Grünen wollen neue Antworten auf die zukünftigen gesellschaftlichen Herausforderungen geben. Die Frage ist allerdings, wie die neuen Antworten aussehen sollen und mit wem sie sie verwirklichen wollen?              Festzuhalten ist erst einmal, dass nach den jüngsten Umfragen die Unionsparteien mit 36% klar vor den Grünen mit etwa 18% liegen. Die SPD stagniert bei 16% und ebenso die Linke bei 8%. Die AFD rutscht inzwischen unter die 10% Marke und die FDP kommt über die 6% nicht hinaus. Anna Baerbock stellt zu Recht fest, dass eine neue Politik bei einer großen Mehrheit der Bevölkerung die Bereitschaft erfordert, diesen Weg mitzugehen. Das ist mit der Pandemie nicht einfacher geworden. Die Suche nach Wählerschichten über die alte Wählerbasis hinaus erweist sich als schwierig.

Im 2. Kapitel des Grundsatzprogramms geht es u.a. um eine neue Wirtschaftsordnung, die sozial-ökologisch orientiert ist. Diese Wirtschaftsordnung müsse Klimaneutralität, Vorsorge und soziale Gerechtigkeit gewährleisten. Das zu erreichen könne nur gelingen, wenn es einen starken, handlungsfähigen und effektiven Staat gebe, der klare Leitplanken aus Steuern, Abgaben und Ordnungsrecht vorgebe. Das setzte aber voraus, dass alle oder viele Mitgliederinnen und Mitglieder der Gesellschaft die Bereitschaft mitbrächten, zu Gunsten einer ökologisch-sozialen Gesellschaft auf die Durchsetzung von Sonderinteressen zu verzichten. Robert Habeck sieht klar, dass unsere Gesellschaft augenblicklich extrem polarisiert ist und die politische Rechte einen starken Auftrieb erlebt. Er warnt vor einer Entwicklung wie in den USA unter Trump. Die zunehmende Spaltung, Radikalisierung, und Verquickung der rechten Szene mit den sogenannten „Querdenkern“ ist allerdings auch bei uns Teil des Alltags geworden. Deswegen fordern die Grünen den Schulterschluss mit dem fortgeschrittenen Teil der Wirtschaft und Industrie, mit Geringverdienern und Menschen, die um ihren Arbeitsplatz bangen müssen. Von Bürgerinnen und Bürgern mit höherem Vermögen und Einkommen wird ein stärkerer Einsatz für zukünftige gesellschaftliche Investitionen gefordert. Das heißt, höhere Steuern für Vermögende und reiche Erben, eine progressive Besteuerung und eine effektive Bekämpfung von Steuerverhinderung und Steuerhinterziehung. Ansgar Graw nennt das die Position eines unauffälligen Antikapitalismus und für einen Staat mit hoher Umverteilung. Dass in der Umverteilungsfrage Wirtschaftsverbände eine beinharte Ablehnung formulieren wird niemand erstaunen. Ob ein Koalitionspartner CDU/CSU bei den Positionen der Grünen mitgehen würde, ist ebenfalls unwahrscheinlich, von der FDP ganz zu schweigen.Es wäre nun auch Aufgabe der Grünen, SPD und der Linken für eine grün-rot-rote Bundesregierung zu werben, damit es gelingt, bis zum Herbst nächsten Jahres eine politische Machtverschiebung zu erreichen. Von den augenblicklichen Mehrheitsverhältnissen her gesehen, sieht das jedoch eher düster aus. Es bleibt abzuwarten, ob bis dahin noch ein Wandel möglich ist.

Aus linker Sicht geht es darum, durch eine fortschrittliche Regierungskoalition und entsprechende politische Maßnahmen in der Frage der Verteilung, des Sozialstaats und der Ökologie für eine Mehrheit der Wahlbevölkerung die Lebenslage entscheidend zu verbessern und das Vertrauen in eine linke Mehrheit zu schaffen und zu erweitern, sowohl durch die inhaltliche Politik als auch durch ein glaubwürdiges Personal. Es muss die Einsicht reifen, dass die bürgerlich-kapitalistische Form des Wirtschaftens nur eine Durchgangsform zu einer wirtschaftsdemokratischen Gesellschaft darstellt. Nicht mehr das Eigentum an den Produktionsmitteln in der Hand von einzelnen Kapitalisten bzw. Aktiengesellschaften darf in Zukunft das gesellschaftliche Leben bestimmen, sondern die Grundlage muss das Eigentum der „assoziierten Produzenten“, also der Beschäftigten der Unternehmen,  und eine demokratische Steuerung der gesamten Wirtschaft sein. Das erst wird die entscheidende politisch-soziale Wende in der Gesellschaft erbringen.

Green New Deal

22. November 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

VOM „GREEN NEW DEAL“ ZUR WIRTSCHATSDEMOKRATISCHEN SOZIALISTISCHEN MARKTWIRTSCHAFT (1).

Eine Gesellschaft, in der die ökonomischen, sozialen und ökologischen Widersprüche massiv zugespitzt sind, befindet sich an einem Scheideweg. Theoretiker, wie zum Beispiel Georg Lukacs oder Karl Polanyi, weisen auf Knotenpunkte in der Geschichte hin, an denen sich durch das Ringen unterschiedlicher Klassenkräfte das gesellschaftliche Leben für Jahre oder sogar Jahrzehnte entscheidet. Eine solche Situation ist auch heute gegeben. Die Grundlage der Widersprüche stellt das Auseinanderdriften der Verteilungsverhältnisse im Einkommens- und Vermögensbereich dar. Ebenfalls ist deutlich geworden, dass die aktuelle Politik unfähig ist, die Probleme der Wohnungsfrage, des Bildungs- und Gesundheitswesens, der Pflege- und Alterssicherung sowie die Spaltung der Ethnien und die Frage der Migration auf eine soziale Weise zu lösen. Diese Krisenprozesse treffen auf viele Menschen, die der Klimawandel direkt oder indirekt betrifft. Dieser wird von Menschen gemacht und ist auf eine unkontrollierte Aneignung der Natur zurückzuführen, also letztlich Resultat kapitalistischer Widersprüche. Das Zusammentreffen all dieser Probleme befördert rechten Populismus und Gewaltexzesse gegenüber Andersdenkenden. Demokratische Lösungsansätze treten häufig hinter der Propagierung autoritärer Ansätze zurück.

Die vorgetragene Entwicklung ist nicht plötzlich vom Himmel auf die Erde gefallen, sondern geht in den meisten kapitalistischen Ländern auf die Zeitspanne seit den 70er Jahren zurück. Die erste Weltmarktkrise seit dem 2.Weltkrieg im Jahre 1974/75 bedeutete den Übergang von einem längeren beschleunigten Wachstum ( beschleunigte Kapitalakkumulation) seit den 50er Jahren zur sogenannten strukturellen Überakkumulation, die sich aus der Struktur des entwickelten Kapitalismus herleiten lässt (2). Während das Wachstum der Wertschöpfung tendenziell geringer wird, nimmt auch das Wachstum der industriellen Profitmasse seit den 70er Jahren ab, was zur Umleitung großer Profitmassen auf die Finanzmärkte führte. Kursanstiege bei Wertpapieren und Spekulationsgeschäfte wurden Trumpf. Die vergangenen 45 Jahre haben besonders nach der Jahrtausendwende Schritt für Schritt die heutigen Probleme hervorgebracht. Die etablierte Politik versuchte durch neoliberale Politik (Begünstigung der Profite, Shareholder- Value-Orientierung, Sozialabbau) die Probleme zu lösen, mit wenig Erfolg. Die nationalen Profitraten verharrten auf dem niedrigen Niveau der 70er Jahre trotz der Senkung des langfristigen Zinssatzes auf fast 0%. Die Spekulation an den Börsen sorgte auf der anderen Seite dafür, dass im realen Sektor (Industrielles und kommerzielles Kapital) die Investitionen und der Konsum nicht ansprangen. Die Covid-19-Pandemie zu Beginn des Jahres 2020 verschärfte die Abschwungstendenzen und führte zur schwersten Krise der Nachkriegszeit.

Was ist dem entgegenzusetzen?

Es hatte sich gezeigt, schon vor Corona, dass die Aufnahmefähigkeit der Märkte für zusätzliche Waren zu gering, das heißt, die gesellschaftliche Nachfrage zu gering war. Die strukturelle Überakkumulation galt und gilt für alle kapitalistischen Metropolen, ablesbar an der Profitratenentwicklung. Weil von der privaten profitgesteuerten Wirtschaft kein Ausweg zu erwarten ist, bleibt nur ein Ausweg über die staatliche Aktivität. Diesem Ausweg unterliegt auch die Konzeption des sogenannten „Green New Deal“ (3). Die  Bezeichnung erinnert an die Politik des „New Deal“ von Roosevelt, durch die in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts die Depression der US-Wirtschaft überwunden und die US-Wirtschaft modernisiert wurde unter Einbezug der Organisationen der Lohnabhängigen. Heute stellen sich allerdings zwei neue Herausforderungen.

Erstens kann heute die Verwertungsblockade des privaten Kapitals in Anbetracht der strukturellen Überakkumulation mit ihrer strukturell niedrigen Profitrate und Zinsrate und einer immensen Verschuldung aller Wirtschaftssektoren nicht so einfach aufgelöst werden. Durch die öffentliche Verschuldung alleine käme es über kurz oder lang zu einem reinen Strohfeuer, wenn nicht auch eine Veränderung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse stattfände. Das bedeutet eine Zurückdrängung der privaten Profitrate als Steuerungsmechanismus der Wirtschaft und eine Transformation in Richtung einer sozialistischen Marktwirtschaft. Hier wäre das Kernstück eine makroökonomisch angelegte Strukturpolitik, der sowohl die Geldpolitik der Zentralbank als auch die Fiskalpolitik des Staates untergeordnet wären.

Zweitens, und hier kommt der „Green New Deal“ zum Tragen, ist der Umbau der Produktionsverhältnisse mit einem tiefgreifenden ökologischen Umbau zu verbinden. Es ist der Anteil der erneuerbaren Energie auszubauen, eine Dezentralisierung und Demokratisierung der Energiegewinnung vorzunehmen, die Sharing-Ökonomie zu fördern und bei Gebäuden eine umfangreiche energetische Erneuerung mit hohen Beschäftigungseffekten vorzunehmen. Bei US-Ökonomen bzw. Ökonominnen, wie zum Beispiel Stephanie Kelton, aber auch bei Vertretern der Modern Monetary Theory in Deutschland soll ein solches Programm problemlos über die staatliche Verschuldung finanziert werden. Das kann gesagt werden, weil ihre Geldtheorie von einer nahezu unbegrenzten staatlichen Geldschöpfung ausgeht.

Es ist zwar nicht zu bestreiten, dass in der heutigen Situation eine Ausweitung der öffentlichen Verschuldung richtig und notwendig ist, es ist allerdings eine politische Position abzulehnen, die auf einem unsoliden theoretisch-finanziellen Fundament aufgebaut ist. Eine Ausweitung des öffentlichen Kredits ist mit den Möglichkeiten der Kreditaufnahme anderer gesellschaftlichen Bereiche und der Verfassung der Finanzmärkte zu koordinieren und deswegen auch zu begrenzen. Worum es in Wirklichkeit geht ist, verbunden mit dem „New Green Deal“, eine ganz neue gesellschaftliche Betriebsweise zu etablieren. Dabei geht es nicht nur um eine umfassende Digitalisierung, sondern um ihre Einbettung in neue gesellschaftliche Strukturen und politische Verhältnisse.

Der Kapitalismus brachte bisher zwei verschiedene Betriebsweisen hervor. Erstens die große Industrie im 19.Jahrhundert mit der Maschinerie als Zentrum der Produktivkraftentwicklung. Sie erzwang den Ausbau der Transport- und Kommunikationsmittel und politisch den Beginn der Fabrikgesetzgebung. Eine Veränderung des Bildungswesens und auch der Familienstrukturen schloss sich an. Zweitens den Fordismus des 20.Jahrhunderts, der zu einer weiteren Steigerung der Arbeitsteilung und zur Massenproduktion und zum Massenkonsum führte. Damit verbunden war eine Erkämpfung eines höheren Lebensstandards und sozialen Absicherung für Lohnabhängige und ihrer Familien. Mit der Ablösung der beschleunigten Kapitalakkumulation in den Metropolen des Kapitals durch die beschriebene strukturelle Überakkumulation seit den 70er Jahren begann ein Suchprozess, die Verwertungsblockade des Kapitals zu überwinden. Die Versuche der Automatisierung vollzogen sich auf traditionelle kapitalistische Weise durch den Ersatz von lebendiger Arbeit durch Maschinen bis hin zur sogenannten „künstlichen Intelligenz.“ Ein Missverständnis besteht darin, dass durch die stärkere Marktvermittlung im Unternehmensbereich und die Automatisierung quasi im Selbstlauf eine Demokratisierung der Verhältnisse entstehe.  Das geht nur, auch im Hinblick auf neue Technologien, durch die Etablierung neuer Arbeitsverhältnisse und ihre Integration in neue wirtschaftsdemokratische Verhältnisse. Diese sind wiederum durch Eigentumsverhältnisse abzusichern, die die Dominanz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse überwinden. Den Wildwuchs des deregulierten Arbeitsmarktes, der unter der Ägide der strukturellen Überakkumulation und des Finanzmarktes entstanden ist, gilt es zu beenden, ebenso wie eine Vielzahl von Kürzungen des Sozialstaates. Es ist ein Wohlfahrtsstaat auszubauen eingeordnet in wirtschaftsdemokratische Arbeitsbeziehungen. Dazu gehören mehr Mitbestimmungsmöglichkeiten ausgestaltet je nach Unternehmensform und Eigentumsform (supranational, nationalstaatlich, kommunal, genossenschaftlich, öffentlich-privat und privat).

Die anstehende sozial-ökologische Transformation der Wirtschaft ist eine Aufgabe der makroökonomischen Strukturpolitik. Sie schließt an den „Green New Deal“ an, der kurz- und mittelfristig angelegt ist, und hat eine höhere Betriebsweise mit einer Neuausrichtung der Volkswirtschaft auf zukünftige Schlüsselindustrien und eine ressourcensparende Wirtschaft mit einem Minimum an Emissionen von Schadstoffen zum Ziel. Das erfordert neue Willensbildungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen. Da die Entscheidung über das Was und Wie der Produktion auf einzelwirtschaftlicher Ebene verbleibt, ist ein abgestuftes System von steuernden Elementen erforderlich. Das können staatliche Regulierungen, Managementagenturen und auch die parlamentarische Kontrolle und zivilgesellschaftliche Organisationen sein. Angesagt ist eine sozialistische Marktwirtschaft als Rahmen für eine neue Betriebsweise. Sie soll die in der Systemgrenze des Kapitalismus wurzelnden Beschränkungen überwinden. Sie muss auch eingebettet sein in eine politisch kontrollierte Globalisierung. Wo immer es möglich ist, sollte eine stärkere Regionalisierung der Weltwirtschaft bei Absage an die finanzielle Globalisierung und Spekulation stattfinden. Für die bundesdeutsche Politik und die der EU bedeutet das, dass eine Hegemonie der USA abzulehnen ist. Notwendig ist eine Weltwirtschaftsordnung, eine internationale und demokratische Wirtschaftsregulierung, eine Weltzentralbank, eine Ablösung der hegemonialen Rolle des US-Dollars und eine Politik der Kontrolle von Leistungsbilanzungleichgewichten. Das zu verwirklichen ist eine Aufgabe der folgenden Jahrzehnte des 21.Jahrhunderts.

(1)Grundlage des Aufsatzes: Stephan Krüger, Grundeigentum, Bodenrente und die Ressourcen der Erde, Hamburg 2020, S.359-380

(2) Siehe hierzu: https://linke-bw.de/petersblog/2020/04/29.und weitere Links

(3) Siehe hierzu: J. Rifkin The Green New Deal, New York 2019.

Coronaskeptiker und Querdenker

14. November 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

BERLIN, KONSTANZ, LEIPZIG- EIN ZUG DER CORONA-SKEPTIKER UND „QUERDENKER“ ZIEHT DURCH DAS LAND (1).

Seit Wochen finden in der Bundesrepublik Demonstrationen von Corona-SkeptikerInnen und sogenannten „Querdenkern“ statt. Am 29.August 2020 beispielsweise fand in Berlin eine Demonstration nach Angaben der Polizei von ca. 50000 Personen statt. Gefordert wurde ein Ende der staatlichen Einschränkungen, die aufgrund der Corona-Pandemie verfügt worden waren. Aufgerufen zur Demonstration hatte die Initiative „Querdenken711“ aus Stuttgart mit ihrem Sprecher Michael Ballweg. Die Demonstration wurde unter der Parole „Berlin invites Europe-Fest für Freiheit und Frieden“ veranstaltet. Unter den Demonstranten waren auch ca. 3000 Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum von Reichsbürgern, Antisemiten, Identitären, NPD-Aktivisten und der QAnon- Bewegung aus den USA. Aus dem Kreis der rechtsradikalen Szene durchbrachen mehrere Hundert Demonstranten die Absperrungen am Reichstagsgebäude, um sich mit Reichskriegsflaggen symbolträchtig vor dem Gebäude aufzubauen. Deutlicher konnte die Ablehnung der bürgerlich-demokratischen Verfasstheit der Bundesrepublik nicht demonstriert werden. Damit war das Konzept des Berliner Innensenators Geisel gründlich gescheitert, der im Vorfeld der Demonstration ein Versammlungsverbot erwirkt hatte, das jedoch von den Verwaltungsgerichten aufgehoben worden war. Geisel hatte das Versammlungsverbot aufgrund der Erfahrungen erlassen, die vier Wochen vorher mit demselben Veranstalter gemacht worden waren. Auch damals wurden die Auflagen, Abstand zu halten und Masken zu tragen offensiv verweigert. Die Demonstration am 29. August 2020 konnte also auf Basis des Gerichtsbeschlusses stattfinden, wurde aber aufgelöst, als wiederum Abstandsregeln und Maskenpflicht nicht eingehalten wurden. Trotzdem wurden am gleichen Tag mehrere Kundgebungen abgehalten, bei denen Michael Ballweg behauptete, der Berliner Senat trete das Grundgesetz mit Füßen und forderte deshalb den Rücktritt des Senats. Er schlug eine Brücke zu den rechtsradikalen TeilnehmerInnen, indem er eine neue Verfassung für die Bundesrepublik forderte und meinte, das Volk müsse wieder die Macht ergreifen. Jan Rathke, seines Zeichens Politikwissenschaftler bei der Amadeus- Antonio- Stiftung, stellte zu Recht fest, dass im Gegensatz zu den Pegida- Demonstrationen, bei denen der Rassismus im Vordergrund stand, es nun eher um einen Staat gehe, der sich gegen seine Bürger verschworen habe. Insoweit bestehe ein Konsens zwischen vielen Corona- SkeptikerInnen und rechtsradikalen Bewusstseinsformen und Organisationen.

Ähnliche Beobachtungen und Analysen wurden u.a. bei einer Demonstration in Konstanz Anfang Oktober gemacht. Mirjam Moll vom Südkurier, die der Veranstaltung beigewohnt hatte, schrieb, dass es sich um kein einfaches Festival gehandelt habe. Die Botschaften auf den Plakaten und vor allem aber die Redner auf der Bühne hätten sehr deutlich gemacht, dass es nicht nur um eine Kritik an den Corona-Maßnahmen gehe. Angela Merkel und Jens Spahn wurden als „Verfassungsverbrecher“ bezeichnet, es gehe um eine Freiheit gegen „Merkels DDR 2.0“. Die Statistiken des RKI wurden in Zweifel gezogen, mehr als 80% der Bevölkerung seien bereits immun. Eine Breitbandkritik gegen die Regierung, die Presse und eine „böse Macht“ sei notwendig.  Deutlich wird laut Mirjam Moll, dass das Corona-Thema nur der Anlass für viele Redner gewesen sei, rechtextreme Ideologien zu verbreiten. Auch Michael Ballweg habe sich klar als Gegner der Verfassung positioniert.

Am 7.-9.November 2020 fand in Leipzig eine weitere Demonstration der „Querdenker“ statt, wobei die Veranstaltung gleich mit den Leipziger Ringdemos von 1989 vermengt wurde. Wieder kamen 40000- 50000 DemonstrantInnen zusammen, darunter wiederum mit Verschwörungsideologen, Rechtsextremen und gewaltbereiten Hooligans. Die „Querdenker“ präsentierten sich als Sammlungsbewegung für alle, die sich durch die Parteien des demokratischen Spektrums nicht mehr vertreten sahen. Es zeigte sich auch in Leipzig, dass eine zunehmende Radikalisierung der Bewegung stattfindet, mit Wut auf die Eliten, die die Corona-Maßnahmen verordnet haben.

Noch ist die politisch organisierte Rechte eine Minderheit, allerdings wäre es fahrlässig davon auszugehen, dass das so bleiben wird. Rationale Argumente prallen bei den Demonstrantinnen ab, bloße Appelle werden wahrscheinlich ein Anwachsen der Proteste und die Radikalisierung kaum verhindern können. Gleichwohl gibt es keine Alternative zur Aufklärung über die gesundheitliche Gefahr der Pandemie, zur Befolgung von Schutzmaßnahmen und die Notwendigkeit sinnvolle Impfungen durchzuführen. Noch wichtiger aber für die demokratische Zivilgesellschaft ist es, sich mit den gesellschaftlichen Widersprüchen und sozialen Ungleichheiten auseinanderzusetzen.  Starke soziale Ungleichheiten gab es schon vor der Pandemie, doch sie wurden noch weiter verschärft durch die Pandemie. Das ist abzulesen an der Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen, die zum Teil krasser ist als in anderen EU-Ländern. Der Unmut vieler BürgerInnen über soziale Verwerfungen verstärkt durch die Pandemie sollte mit offenen Diskussionen über Alternativen beantwortet werden. Das schließt nicht aus, sinnvolle Einschränkungen bestimmter Freiheitsrechte auf demokratische Weise, also durch das Parlament, durchzusetzen.

(1)Dem Aufsatz liegen zugrunde: Bischoff u.a. Sozialismus aktuell vom 2.9.20 und 10.11.20 sowie Mirjam Moll vom Südkurier vom 5.10.20

Die US-Wahlen-Ergebnisse und Probleme.

08. November 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

                      DIE US-WAHLEN -ERGEBNISSE UND PROBLEME. (1)

Zu Anfang muss festgestellt werden, dass die Demokratische Partei zwar mit Joe Biden den nächsten US-Präsidenten stellen wird, aber trotzdem fand kein wirklicher politischer Durchbruch der Demokraten statt. Wenn über die chaotische Wahl des Präsidenten hinausgeblickt wird und die Wahlen zum Senat, dem Abgeordnetenhaus und weitere Wahlen in den Bundesstaaten betrachtet werden, dann wird deutlich, dass von einer Offensive der Demokraten nicht die Rede sein kann. Die sogenannte „blaue Welle“ führte nicht zu einer grundlegenden Machtverschiebung in verschiedenen Verfassungsorganen.  Insoweit wurden die Erwartungen der Demokratischen Partei und ihrer Anhänger enttäuscht, insbesondere was ihren Kampf gegen die soziale Spaltung, den Rassismus und die Klimapolitik Donald Trumps angeht. Die Demokraten haben zwar einen deutlichen Vorsprung bei den Stimmen der gesamten WählerInnen erreicht, aber keinen überwältigenden Vorsprung bei dem entscheidenden Wahlleutegremium. Da der Senat vermutlich weiter durch die Republikaner beherrscht wird und auch im Repräsentantenhaus keine große Mehrheit der Demokraten gegeben sein wird, sind der Regierungsarbeit Bidens und seinem Reformprogramm enge Grenzen gesetzt. Im Gegensatz zu den Republikanern, die bisher nur das „Programm Trump“ verfolgten, hat die Regierung Biden vor, den Kampf gegen die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Folgen aufzunehmen, das Wirtschaftsleben zu erneuern, die Gesundheitsversorgung zu verbessern, den Klimaschutz zu erhöhen und die unsoziale Steuerpolitik, die Waffengesetze und die gesellschaftliche Immigration  in den Fokus zu nehmen. Das alles anzugehen wird dadurch erschwert, dass es nur geringe Machtverschiebungen außerhalb des Präsidentenamtes gab.

Die Offensive der Demokraten scheiterte nicht an zu geringen Wahlkampfgeldern, wie gelegentlich behauptet wird. Joe Biden gab als erster Präsident in der Geschichte der USA mehr als 1 Mrd. Dollar aus, mehr als Trump 2016 und 2020, aber auch mehr als Hillary Clinton 2016 und Barak Obama 2012. Die politischen Wahlresultate sind auch von daher enttäuschend.

Für das Wahlergebnis von großer Bedeutung sind die Wahlbeteiligung und die aktuelle soziale Struktur der amerikanischen Gesellschaft. In diesem Jahr sind von den 239 Millionen Wahlberechtigten ca. 67% zur Wahl gegangen, was für die USA den höchsten Wert seit 50 Jahren darstellt. Hier spiegelt sich die enorme Polarisierung und Emotionalisierung, die im diesjährigen Wahlkampf stattfand. Hinzu kommen demografische und wirtschaftliche Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten in den USA entwickelt wurden. Während in den 70er Jahren noch 87% Weiße und 11% Schwarze zur Wahlbevölkerung zählten, sind es heute 60% Weiße, 12% Afro-AmerikanerInnen, 19% Latinos und 6% Asien-AmerikanerInnen. Das hatte zur Folge, dass es den Republikanern gelang, ihren Stimmenanteil bei den Latinos aber auch den Afro-Amerikanerinnen zu erhöhen. Besonders das Gewicht der Latinos im Wahlkampf wurde von den Demokraten unterschätzt. Zu den demografischen Veränderungen kommen sozialstrukturelle Veränderungen hinzu. Heute haben 1/3 der Männer und Frauen ein College-Diplom. Die Frauenerwerbstätigkeit ging steil nach oben und nur noch 8% der Erwerbsbevölkerung arbeitet im Produktionsbereich, die Dienstleistungen prägen heute das Wirtschaftsleben.

Insgesamt ist es auf dieser Basis schwieriger als früher gesellschaftliche Bündnisse für Wahlen zustande zu bringen. Wahlentscheidend waren wirtschaftliche Themen. Das haben die Republikaner stärker im Fokus gehabt als die Demokraten. Die Demokraten stellten stärker COVID 19, die soziale Ungleichheit und den Klimawandel (Green New Deal) ins Zentrum. Die Wirtschaftskrise, durch die Pandemie ausgelöst, hat auch die USA schwer getroffen. Die Arbeitslosigkeit explodierte, viele Menschen verloren ihre Mitgliedschaft in einer Krankenkasse. Es gab keine Abmilderung durch Kurzarbeiterregelungen. Dafür sorgte der Staat für weitgehende finanzielle Transfers, so dass die Einkommensverluste überschaubar blieben. In einer Gallup-Umfrage, die im September durchgeführt wurde, schätzten 56 % der Befragten ihre ökonomische Situation besser ein als vor 4 Jahren. Keinem anderen Präsidenten als Trump ist es in den letzten Jahrzehnten gelungen, dass am Ende der ersten Amtszeit die Mehrheit der Amerikaner eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage verspürten. Eine Analyse der Wählerentscheidungen hat inzwischen gezeigt, dass mehr Frauen als Männer, mehr Schwarze als Weiße und mehr Junge als Ältere Biden gewählt haben. Zu Gunsten von Trump schlug vor der Pandemie die Wirtschaftsentwicklung zu Buche. Er „erbte“ allerdings von Obama einen Boom, den Obama in der Finanzkrise 2008/2009 mit milliardenschweren Programmen hervorgerufen hatte. Trumps Politik war danach die Durchführung von Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende sowie Investitionen in die Infrastruktur bei hoher staatlicher Verschuldung.

Die Schlüsselfrage bleibt: Wie können die USA die Pandemie und ihre wirtschaftlichen Probleme überwinden und wie wird ihre kapitalistische Zukunft gestaltet?

Es gelang weder Europa noch den USA nach der Finanzkrise die langfristige Schwächung des Wachstums zu bekämpfen, was mit erheblichen Wachstumsverlusten und Verteilungskonflikten verbunden war. Durch die Corona-Pandemie mehren sich die finanziellen Probleme vieler Haushalte, die Unsicherheiten nehmen wirtschaftlich und politisch zu. Trotzdem drang die demokratische Alternative der Demokratischen Partei nur unzureichend durch. Die Propagierung des „Grünen New Deal“ und der sozial-ökologischen Transformation führten nicht zu einer massiven „blauen Welle.“ Es bleibt abzuwarten, ob es der Regierung Biden gelingt, hier eine Veränderung zu erzielen und eine erfolgreiche Reformpolitik bei allen Schwierigkeiten durchzusetzen.(1)Der Aufsatz fasst die wesentlichen Punkte des Beitrages von Bischoff/Müller: „Kein Durchbruch der Demokraten bei den US-Wahlen“ in Sozialismus aktuell vom 6.11.20 zusammen

Politische Ökonomie heute

23. Oktober 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

POLITISCHE ÖKONOMIE HEUTE (1)

Der Finanzkapitalismus, wie er sich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts darstellt, fordert die Linke heraus, sich über die Aktualität der Marxschen Theorie und zum Teil auch der Theorie von Keynes zu verständigen (2). Sie muss in der Lage sein, ökonomische, soziale und politische Verwerfungen von heute auf dieser Basis zu erklären und nachvollziehbare und überzeugende Lösungsvorschläge zu bieten.

Die Marxsche Theorie hat den Anspruch, die Grundstruktur des Kapitalismus und seine Entwicklungsperspektiven offenzulegen. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei der Bürgerlichen Nationalökonomie um eine ahistorische Betrachtungsweise, die den Kapitalismus immer noch als die beste aller Welten ansieht. Die theoretische Grundlage unserer politischen Arbeit sollte demzufolge die Marxsche Theorie und in bestimmter Weise auch die Keynessche Theorie sein.

Auf Basis der Marxschen Theorie ist es möglich, zwei große Etappen des Kapitalismus zu unterscheiden. Die erste Etappe begann mit dem Ende des 18.Jahrhunderts bzw. dem Beginn des 19.Jahrhunderts. Diese Etappe war gekennzeichnet durch die Durchsetzung und Verallgemeinerung dieser Produktionsweise. Es entstand die Große Industrie mit Großbritannien als Weltmarktführer. Zum Ende des 19.Jahrhunderts bröckelte die Stellung Großbritanniens auf dem Weltmarkt und es traten die USA und auch das Deutsche Reich als Konkurrenten auf. Die historisch zweite Etappe eines beschleunigten Wachstums des Kapitalismus gründete sich auf die Rationalisierungsentwicklung in den USA (Fordismus) und begann schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts.  Weltmarktführer waren nun die USA. Nach der 1.Weltwirtschaftskrise (1929-32) und den Zerstörungen des 2.Weltkrieges entwickelte sich ein prosperierender Kapitalismus. Der immanente Widerspruch des Kapitalismus erhielt eine ruhige Bewegungsform. Das heißt: Die wertschöpfende Arbeit (variables Kapital), die aufgrund der Produktivitätsentwicklung im Verhältnis zu den eingesetzten Maschinen (konstantes Kapital) eine abnehmende Tendenz hat, wurde mehr als ausgeglichen durch das Wachstum des eingesetzten Gesamtkapitals. Das hatte zur Folge, dass die Profitrate des industriellen Kapitals zwar durchgängig fiel aber die Profitmasse insgesamt anstieg.  Unter Profitrate versteht man das Verhältnis von Mehrwert/ konstantem + variablem Kapital. Da der produktive Arbeiter in Form des Arbeitslohnes den Wert seiner Arbeitskraft und nicht den Wert seiner Arbeit vergütet bekommt, produziert er neben dem Gegenwert für den Arbeitslohn noch einen Mehrwert, den sich der Kapitalist unentgeltlich aneignen kann. Da aber nur der Arbeiter Mehrwert produziert, muss bei abnehmendem variablem Kapital und zunehmendem konstanten Kapital die Profitrate abnehmen und damit auch die Profitmasse. Nur wenn das Gesamtkapital schneller wächst als die Profitrate fällt kann auch die Profitmasse wachsen.

Flankierend dazu griff der Staat nach dem 2.Weltkrieg stärker in die Verteilungsverhältnisse ein und entwickelte auch die Wirtschafts-Sozial- und Geldpolitik weiter. Durch den Ausbau des Sozialstaates, die Weiterentwicklung des Geld- und Währungssystems mit inkonvertiblen Zentralbanknoten und festen Wechselkursen (Bretton-Woods-System) sowie einer antizyklischen Wirtschaftspolitik gelang es für eine gewisse Zeit, dämpfend gegenüber konjunkturellen Schwankungen zu wirken. Im Ergebnis wurden die wirtschaftliche Wachstumsrate und Investitionsentwicklung verstetigt und befördert.

Der Strukturbruch der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die ruhige Bewegungsform des immanenten Widerspruchs der kapitalistischen Produktionsweise fand ab der Mitte der 70er- Jahre ein Ende. Schon zu Beginn der 70er- Jahre zerbrach das Weltwährungssystem von Bretton-Woods mit dem Dollar als Leitwährung und dem System der festen Wechselkurse zwischen den beteiligten kapitalistischen Nationen. Das beschleunigte Wachstum des Kapitals (beschleunigte Kapitalakkumulation) wurde in den kapitalistischen Hauptländern durch eine sogenannte chronische Überakkumulation von Kapital abgelöst. Damit ist gemeint, dass eine Überreichlichkeit an Kapital besteht, die nicht im vollen Umfang profitabel im Produktionsbereich angelegt werden kann. Diese Situation tritt nicht nur kurzfristig-zyklisch auf, sondern im gesamten Konjunkturzyklus. Es gelingt jetzt nicht mehr, den Fall der Profitrate durch eine Steigerung der Profitmasse abzufangen. Der Verlauf des Zyklus verändert sich und es entsteht ein Verdrängungswettbewerb zwischen bereits fungierenden Kapitalen und Kapitalen, die neu angelegt werden sollen. Die Aufschwungsperioden werden kürzer und die Abschwünge sind tiefer und länger ausgeprägt. Während in der Zeit des beschleunigten Wachstums die Ursache der zyklischen Krise in der abnehmenden Profitexpansion im Investitionsgütersektor zu suchen war, ist es nun vor allem die unzureichende Konsumnachfrage, die zur Krise führt.

Die herrschende Politik versuchte und versucht, kapitalistische Auswege aus der von ihr nicht durchschauten chronischen Überakkumulation zu finden. Die Eingriffe der Politik wechselten mit den verschiedenen Phasen der Überakkumulation. Am Beginn der 70er Jahre stand die Phase der Stagflation, das heißt, die Warenpreise stiegen allgemein und das Wirtschaftswachstum stagnierte. Die Inflationierung der Warenpreise wurde hervorgerufen teilweise durch internationale Rohstoffpreissteigerungen (Erdöl) zum anderen Teil durch damals noch starke Steigerungen des privaten und staatlichen Konsums. Die vorteilhaften Marktbedingungen erlaubten es zu diesem Zeitpunkt entsprechende Lohnsteigerungen durchzusetzen und defizitfinanzierte Konjunkturprogramme aufzulegen. Das Problem war allerdings, dass die damals herrschende sozialdemokratische Politik bei dem Versuch der Konjunkturstabilisierung stehen blieb wo bereits sehr weitgehende Eingriffe in die kapitalistische Produktionsweise nötig gewesen wären (Stichwort Investitionssteuerung).  Es blieb bei Strohfeuereffekten der Konjunkturprogramme und es kam nicht zu einer dynamischen Investitionsentwicklung. Die Stagflation heizte andererseits die Kreditexpansion an und führte zu steigenden Zinssätzen, der Beginn einer gigantischen Aufblähung des Finanzsektors.

Die zweite Phase der chronischen Überakkumulation stand im Zeichen der sogenannten Angebotspolitik (Thatcher, Reagan, Kohl). Lohnsenkungen, Kürzungen von Sozialleistungen und eine auf unbedingte Preisstabilität orientierte Geldpolitik sind hier die Stichworte. Es sollten einerseits die Interessen der Geldvermögensbesitzer gesichert und andererseits der industrielle Profitratenverfall gestoppt werden. Es gelang, die Profitrate zu stabilisieren und die Inflationsrate und den Zinsfuß zu senken. Trotzdem trat die Schwäche des Massenkonsums immer deutlicher hervor. Die Steigerung der Verkäufe der warenproduzierenden Industrie wurde in Frage gestellt, die Kurse der Wertpapiere an den Börsen und die Immobilienpreise dagegen angefeuert. Das war im Sinne der Aktionäre und ihrer Vermögensverwalter, zum Beispiel des Vermögensverwalters Black Rock.Die wirtschaftliche Dynamik verlagerte sich zunehmend in die Finanzsphäre, es wurden immer neue „Finanzprodukte“ entwickelt, das überreichliche Kapital erhielt neue Anlagemöglichkeiten.

Damit hatte sich der Finanzkapitalismus durchgesetzt und die dritte Phase der chronischen Überakkumulation wurde eingeleitet. Da die Konsumschwäche der privaten Haushalte immer fühlbarer wurde, sollte nun die Expansion der Massennachfrage auf Kreditbasis stattfinden. Der Prozess endete mit einem Höhenflug der Wertpapierkurse, einer Immobilienpreisblase und dem Beinahe-Zusammenbruch des internationalen Bank- und Finanzsystems in der Finanzkrise 2007/2008 und der 2.Weltwirtschafts-krise.Der Zusammenbruch konnte verhindert werden, weil die wichtigsten Zentralbanken auf eine ultralockere Geldpolitik umschalteten, das heißt, den Geldmarkt mit billigem Geld überfluteten und unbegrenzt staatliche Schuldpapiere ankauften. Diese Politik wird bis heute fortgesetzt, weil Banken, Unternehmen und Privathaushalte ihre angehäuften Schuldenberge abbauen und dadurch Investitionen und die gesellschaftliche Nachfrage allgemein eingeschränkt werden. Dem versuchen die Zentralbanken durch ihre Geldpolitik zu begegnen. Zuerst stand die Sparpolitik der EU-Staaten, angeführt durch die Bundesrepublik, der EZB-Politik diametral entgegen (Politik der schwarzen Null). Inzwischen musste diese Politik wegen der Corona-Krise aufgegeben werden und es wird versucht, die massiven wirtschaftlichen Einbrüche durch staatliche Verschuldung abzufangen. Es ist allerdings nicht so, dass die Corona-Krise nur als exogener Schock zu interpretieren ist und nichts mit der kapitalistischen Produktionsweise zu tun hätte. Aktuelle Lebensweisen haben durchaus mit kapitalistischen Verhältnissen zu tun. Es besteht eine Wirkungskette von Waldrodung, Urbanisierung, kapitalistischer Agrarwirtschaft, industrieller Massentierhaltung und der Vermehrung ganz neuer, resistenter Viren auf Lebendtiermärkten (3).

Eine linke alternative Politik

Es wurde bisher deutlich gemacht, dass sich innerhalb der chronischen Überakkumulation kein erneutes langfristiges beschleunigtes Wachstum erreichen ließ.  Im Gegenteil, die wirtschaftliche Entwicklung wurde noch tiefer in die Krise getrieben. Wir müssen bei der chronischen Überakkumulation von einer nach innen gerichteten ökonomischen Spiralbewegung ausgehen, die uns die historische Begrenztheit der kapitalistischen Produktionsweise vor Augen führt. Alle Umverteilungsprozesse zugunsten der Profite haben es nicht erreicht, die Profitrate auf Dauer zu erhöhen. Marx hatte mit Recht einen tendenziellen Fall der Profitrate als Strukturmerkmal des Kapitalismus abgeleitet. Eine Stabilisierung der Masseneinkommen und damit der Konsumnachfrage sowie ein Schub bei den staatlichen Investitionen könnten zwar den Marsch in die Deflation und schließlich Depression aufhalten, aber kein neues nachhaltiges Entwicklungsmodell etablieren. Trotzdem sind die beiden Maßnahmen als wichtige Maßnahmen, gerade in Corona-Zeiten, auf dem Weg zu einer gesellschaftlichen Alternative anzusehen. Die wirkliche Alternative muss darin bestehen, die Dominanz der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und die Profitrate als Steuerungszentrum unserer Wirtschaftsordnung zurückzudrängen. Es geht vor allem darum, die wertschöpfende Basis der Gesellschaft gegenüber dem Finanzsektor Schritt für Schritt zu stärken. Eine sozialistische Marktwirtschaft wäre eine Alternative, die sowohl auf Basis der Marxschen Theorie aber auch auf der Grundlage von Keynes als Alternative zur heutigen Wirtschaftsordnung zu entwickeln wäre. Keynes forderte in seiner Allgemeinen Theorie eine „ziemlich umfassenden Sozialisierung der Investitionen.“ Damit meinte er eine weitgehende Steuerung gesellschaftlicher Investitionen durch den Staat, grenzte sich aber von der damaligen staatssozialistischen Planwirtschaft der Sowjetunion ab und sah auch nicht die Notwendigkeit, das private Eigentum an Produktionsmitteln in Frage zu stellen. Er blieb im Wesentlichen auf die Veränderung der Verteilungsverhältnisse der Gesellschaft fixiert.

Im Gegensatz dazu ging es Marx um eine grundlegende Veränderung der Produktionsverhältnisse und er betrachtete die Verteilungsverhältnisse nur als Kehrseite der Produktionsverhältnisse. Marx plädierte für eine gemeinschaftliche Produktion mit gesellschaftlichen Produktivkräften im Eigentum „assoziierter Produzenten.“ Er hat in diesem Zusammenhang immer die Wichtigkeit genossenschaftlicher Eigentumsformen betont und dem Kredit- und Banksystem eine besondere Rolle bei der Überwindung des Kapitalismus zugewiesen. Die gesellschaftliche Kontrolle über das Bank- und Kreditwesen gilt jedoch nur als ein Element der Veränderung neben einer Vielzahl von weiteren Veränderungen. Dazu gehört die Mitentscheidung der unmittelbar Beschäftigten über die grundlegenden Unternehmensentscheidungen über das Was, Wie und Für Wen der Produktion. Ferner gehört dazu das Miteigentum der unmittelbar Beschäftigten an den Produktionsmitteln. Insgesamt gilt, dass es notwendig ist, eine integrierte Struktur- Finanz- und Geldpolitik zur Steuerung der marktvermittelten Ressourcen zu verwirklichen und damit den kapitalistischen Charakter der Warenproduktion und Warenzirkulation zurückzudrängen. Eine völlige Aufhebung der Marktvermittlung wird nur in einer Gesellschaft gelingen, die aufgrund ihres Überflusses diese Vermittlung der Ressourcenverteilung nicht mehr benötigt. Davon konnte aber in den ehemaligen staatssozialistischen Ländern überhaupt nicht die Rede sein. Die zentrale Planung in diesen Ländern führte zu riesigen Schattenwirtschaften, die ihre Mängel nur ausgleichen konnten, indem die Betriebe neben der zentralen Ressourcenzuteilung illegal Marktbeziehungen mit anderen Staatsbetrieben aufbauten. Diese informellen Marktbeziehungen waren in der Regel mit persönlichen Bereicherungen, Vetternwirtschaft und Korruption verknüpft. Auch die Tatsache, dass Betriebe der Produktionsmittelproduktion neben ihrem Hauptprodukt auch noch Konsumgüter herstellen mussten, war die offizielle Anerkenntnis, dass die zentrale Ressourcenzuweisung und die administrativ festgesetzten Preise den gesellschaftlichen Bedarf nicht befriedigen konnten und die Preiskalkulation in vielen Fällen nicht kostenorientiert war. Die Schlussfolgerung für eine zeitgemäße Sozialismuskonzeption muss somit lauten: 

Eine sozialistische Ökonomie für entwickelte Volkswirtschaften muss eine Marktwirtschaft sein, die den Ware-Geld-Beziehungen und den dezentralen Entscheidungen auf Unternehmensebene gegenüber der Priorität gesellschaftlicher Steuerung eine wichtige Funktion zumisst. Ein solcher Marktsozialismus kann sich dabei gerade auf Marx berufen. Dies kann anhand der Marxschen Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit gezeigt werden. Zunächst ist bei Marx gesellschaftlich notwendige Arbeit die Arbeit, die erforderlich ist, um einen Gebrauchswert unter gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen mit durchschnittlicher Qualifikation herzustellen. Das im Rahmen einer zentralen Planung exakt zu quantifizieren ist nicht möglich. Noch weniger ist es möglich, die zweite Bestimmung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit, gegeben durch das Maß der zahlungsfähigen Nachfrage, von vornherein genau zu bestimmen. Auch hier versagt die zentrale Planung, wenn sie die zukünftige gesellschaftliche Nachfrage genau quantifizieren soll. Es bleibt zudem durch die Preiselastizitäten des Angebots und der Nachfrage ein höchst variabler Zusammenhang von Angebot und Nachfrage. All dies verweist auf eine Gesellschaft, in der nicht nur eine zentrale Steuerung wichtiger Investitionen, sondern wesentlich auch eine marktvermittelte Ressourcenverteilung stattfinden muss. Das wird auf Dauer nur gelingen, wenn die demokratische Linke wirtschaftsdemokratische Verhältnisse als wirkliche Alternative zum Kapitalismus glaubhaft und überzeugend darstellen kann und mit kurz- und mittelfristigen Maßnahmen zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise verbindet. Gerade die Corona-Pandemie zeigt, dass eine gesellschaftlich kontrollierte ökonomische Entwicklung jenseits der kapitalistischen Produktionsweise notwendig ist.

(1)Der Aufsatz basiert im Wesentlichen auf den Texten von Stephan Krüger: Entwicklung des deutschen Kapitalismus 1950-2013 Hamburg 2015 und Wirtschaftspolitik und Sozialismus Hamburg 2016.

(2) Siehe auch: Joachim Bischoff u.a. Vom Kapital lernen, Hamburg 2017.

(3) Siehe dazu: Christoph Lieber, Krise und „Normalität“, Zeitschrift Sozialismus, Heft 6/2020, S.45-51

Corona-Krise und Sozialismus

20. Oktober 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

DIE CORONA-KRISE UND EINE MODERNE SOZIALISMUSKONZEPTION (1).

Für die Partei „Die Linke“ ist die Diskussion einer modernen Sozialismuskonzeption von großer Bedeutung. In der innerparteilichen Diskussion aber auch in der Diskussion außerhalb der Partei, zum Beispiel in Wahlkampfveranstaltungen und an Informationsabenden, muss deutlich werden, dass die Partei einerseits zusammen mit Bündnispartnern für verbesserte Lebensbedingungen der BürgerInnen kämpft, dass sie aber auch andererseits einen Konsens der Linken zu erreichen versucht, der zu einer langfristigen Verwirklichung einen modernen Sozialismuskonzeption führt. Eine solche Konzeption kann auf der Basis der Theorien von Marx und Keynes entwickelt werden. Anzuknüpfen ist an den Problemen, die die Finanzkrise 2008, die Eurokrise und zuletzt die Corona-Krise hinterlassen haben. Die aktuellen Krisensituationen müssen als vorläufige Endpunkte einer seit der Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts sich zuspitzende Überakkumulation von Kapital in den kapitalistischen Metropolen und damit zusammenhängend, einer verfehlten neoliberalen Politik auf internationaler und europäischer Ebene begriffen werden. Die Partei „Die Linke“ sollte sich zusammen mit Bündnispartnern in der SPD, den Grünen, den Gewerkschaften und verschiedenen alternativen Gruppierungen für einen linken Minimalkonsens stark machen (2) und auf die Notwendigkeit einer auf Dauer nichtkapitalistischen Perspektive hinweisen. Nur so wird ein weiterer gesellschaftlicher Fortschritt möglich sein.

Erstens geht es um den Kampf gegen den wirtschaftlichen Einbruch und die sozialen Folgen der Corona-Pandemie, insbesondere der Verschärfung der Ungleichheit in den Einkommens- und Vermögensverhältnissen. Die ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung ist konsequent anzugehen. Geeignete Maßnahmen sind u.a. die Anhebung von Tariflöhnen, gesetzlichen Mindestlöhnen, die Ausweitung der Mitbestimmung der Beschäftigten in Unternehmen, sowie der Aufbau europäischer Gewerkschaften mit einer europäischen Tarifpolitik.

Zweitens geht es um die Neuorganisation des Banken- und Finanzsystems. Dieser Sektor hat die Aufgabe, den Unternehmen, staatlichen Stellen und Privaten ausreichend Kredite zur Verfügung zu stellen. Völlig überflüssig ist in diesem Zusammenhang die Kreierung spekulativer Finanzprodukte. Es kommt im Gegenteil darauf an, vor allem den Sparkassen- und Genossenschaftssektor zu stärken, bestimmte Geschäfte ganz zu verbieten (z.B.

Offshore-Geschäfte) und eine strikte europäische Bankenaufsicht zu schaffen. Die Europäische Zentralbank (EZB) ist mit erweiterten Instrumenten bei ihrer Kreditvergabe und beim Einsatz von Kapitalverkehrskontrollen und Devisenmarktinterventionen auszustatten.

Drittens müssen die öffentlichen Haushalte auf eine solide Einnahmebasis gestellt und eine exzessive Staatsverschuldung verhindert werden. Dabei kann ein europäischer Mindeststeuersatz für Unternehmen, eine stärkere und direkte Besteuerung von Gut- und Spitzenverdienern, eine wirksame Besteuerung von Finanztransaktionen sowie eine Koordinierung und Zentralisierung der europäischen Finanzpolitik weiterhelfen. Außerdem müssen steuerpolitische Maßnahmen zur Korrektur von Leistungsbilanzungleichgewichten in Europa eingesetzt sowie ein EU-Finanzausgleich ausgebaut werden.  

Viertens gilt es über Europa hinaus Leistungsbilanzungleichgewichte durch eine koordinierte Geld- und Finanzpolitik, Kapitalverkehrskontrollen und Devisenmarktinterventionen zu verhindern. Eine grundlegende Reform des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist dabei ein wichtiger Ansatzpunkt.

Die vier angeführten Punkte zu verwirklichen, was im Rahmen eines linken Konsenses schwer genug sein wird, würde die schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise, Eurokrise und Coronakrise beseitigen. Es wäre nun Aufgabe der Linken, weitertreibende Momente dieser Übergangsforderungen zu benennen. Es kann dabei angeknüpft werden an Vorschlägen von Keynes, der schon in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts eine „ziemlich umfassende Sozialisierung der Investitionen“ forderte ohne allerdings die kapitalistische Produktionsweise in Frage stellen zu wollen. Demgegenüber kann auf Basis der Marxschen Theorie gezeigt werden, dass durch den tendenziellen Fall der durchschnittlichen Profitrate und den Fall der Profitmasse (strukturelle Überakkumulation) auf Dauer eine Blockade des Wirtschaftswachstums  entsteht, die nur durch die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise beseitigt werden kann. Ein öffentliche Rahmenplanung der die Volkswirtschaft bestimmenden Investitionen und ein gesellschaftlicher Zugriff auf das Eigentum an den Produktionsmitteln bleiben dabei von zentraler Bedeutung. Für entwickelte Volkswirtschaften wird ein Marktsozialismus als moderne Sozialismuskonzeption zu diskutieren sein.

Eckpunkte eines modernen Sozialismuskonzeptes.

Bereits Keynes schwebte für die lange Frist eine Gesellschaft vor, in der aufgrund der Entwicklung der Technik (Bestand des fixen Kapitals) die Knappheit von Gütern im Verhältnis zur gesellschaftlichen Nachfrage überwunden werden könne. Marx hatte schon im 19.Jahrhundert vorausgesehen, dass durch die Entwicklung der Produktivkräfte der Arbeit  der Kapitalismus an die Schwelle zu einer möglichen Gesellschaft des Überflusses kommen kann, allerdings eine solche Gesellschaft nur unter der Voraussetzung zu erreichen ist, dass die kapitalistische Gesellschaft überwunden und eine neue höhere Form der gesellschaftlichen Produktion etabliert wird. Für Marx war die Reichlichkeit des fixen Kapitals (Maschinen, Gebäude, Rohstoffe) immer eine wesentliche Voraussetzung für den Übergang in eine neue Produktionsweise. Es entsteht allerdings dann die Frage, in welchem Verhältnis die Reichlichkeit oder die Knappheit von Waren zu den Bedürfnissen der Gesellschaftsmitglieder steht. Ökonomen, die in der Tradition von Keynes stehen, haben darauf hingewiesen, dass eine weitgehende Sättigung von Bedürfnissen schon in dieser Gesellschaft möglich sei. Dem widerspricht jedoch, dass der Finanzkapitalismus der letzten Jahrzehnte wegen der Zunahme der Einkommens- und Vermögensungleichheit sich wieder weitgehend von einer Überflussgesellschaft entfernt hat, ganz abgesehen von den aktuellen Krise, ökologischen und sozialen Defiziten und von den gravierenden Problemen der 3. und 4.Welt.                                                                 Hier setzt eine moderne Sozialismuskonzeption als demokratische Antwort auf die aktuellen Probleme ein. Es muss zugegeben werden, dass eine marktvermittelte Allokation von gesellschaftlichen Ressourcen solange unverzichtbar ist, solange die gewünschten Waren nicht im Überfluss vorhanden und frei verfügbar sind und auch eine zentrale Rationierung von Gütern abgelehnt wird.  Das System des Staatssozialismus hat gezeigt, dass eine umfassende zentrale Planung des Wirtschaftslebens nicht die Antwort auf die Krise des Kapitalismus sein kann. Eine zentrale Lenkung der gesellschaftlichen Ressourcen durch eine staatliche Planungsbehörde erwies sich als immer weniger funktional für die Produktivitätssteigerung und das Wirtschaftswachstum. Das zeigte sich u. a. darin, dass viele verstaatlichte Betriebe Planungsdefizite durch informelle Marktbeziehungen ausgleichen mussten. Es entwickelte sich eine Schattenwirtschaft, das heißt, dass sich viele Betriebe illegal von anderen Industrie- Bau und Transportbetrieben benötigte Rohstoffe, Halb- und Fertigwaren besorgten. Dass damit auch persönliche Bereicherungen, Vetternwirtschaft und Korruption verbunden waren, lag in der Natur der Sache. Es setzte sich in vielen staatssozialistischen Länder, wenn auch zu spät, die Erkenntnis durch, dass die zentrale Ressourcenzuteilung und die staatlich festgelegten Preise immer weniger auf verursachungsgerechter Kostenzuordnung aufgebaut waren und der gesellschaftliche Bedarf nicht optimal befriedigt werden konnte. Die Beschaffenheit der Güter entsprach in vielen Fällen nicht den Bedürfnissen der Bürger.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Erfahrungen für eine moderne Sozialismuskonzeption?

1.  Eine sozialistische Ökonomie für eine entwickelte Volkswirtschaft wird den Ware-Geld-Beziehungen, das heißt Angebot und Nachfrage an Märkten, eine wichtige Funktion einräumen.

2. Unternehmen werden nicht vorwiegend von einer staatlichen Planungsbehörde gesteuert werden müssen, sondern dezentrale Entscheidungen auf Unternehmensebene werden für weite Bereiche der Volkswirtschaft das bestimmende Prinzip sein.

3. Entscheidend für den systemspezifischen Charakter einer Wirtschaftsordnung sind die Produktionsverhältnisse, das heißt das Verhältnis der Produzenten zu den Produktionsmitteln und nicht, ob die Güter als Waren zirkulieren. Marx hatte vielfach darauf hingewiesen, dass die Warenzirkulation in verschiedenen Produktionsweisen vorzufinden ist, sogar unter antiken Verhältnissen. Wenn die kapitalistische Produktionsweise abzuschaffen ist, dann bedeutet das, dass die Produktionsmittel nicht mehr als privates Eigentum dazu dienen, von den Arbeitenden Mehrarbeit bzw. Mehrwert anzueignen, sondern die Verwirklichungsbedingungen der Arbeit der Produzenten darstellen. Damit wird gleichzeitig der Warencharakter der Arbeitskraft in Frage gestellt, das heißt, die Funktion des privaten Eigentums an den Produktionsmitteln zurückgedrängt und die Arbeitskräfte selbst über das Was, Wie und Für Wen ihrer Arbeit entscheiden. Es entsteht ein verändertes Verhalten der Gesellschaft insgesamt und der einzelnen Unternehmen zu den Produzenten. Eine solche Gesellschaft verweist auf die führende Rolle des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln und dem Grund und Boden. Das muss nicht unbedingt staatliches Eigentum sein, sondern kann auch halbstaatliches oder vor allem modernisiertes genossenschaftliches Eigentum sein. Auch der Fortbestand des privaten Eigentums an Produktionsmitteln ist in bestimmten Bereichen der Gesellschaft vorstellbar, insbesondere bei kleinen nichtkapitalistischen Warenproduzenten und Warenkaufleuten (Kleines Handwerk und Kleinhandel). Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln harmoniert also mit verschiedenen gesellschaftlich-gemeinschaftlichen Eigentumsformen.

Die Schlussfolgerung für ein modernes Sozialismuskonzept lautet also:

Die drei Elemente, – Eigentum an den Produktionsmitteln, Entscheidungsgewalt über die Unternehmensausrichtung und die gesellschaftliche Steuerung wichtiger volkswirtschaftlicher Größen (Wachstum, Beschäftigung, Preise etc.) – sind so zusammenzusetzen, dass die Dominanz der nicht-kapitalistischen Produktionsverhältnisse gewährleistet bleibt. Das schließt ein, dass es einen Mix aus verschiedenen Eigentumsformen mit der Dominanz vergesellschafteter Unternehmen in den Schlüsselsektoren geben sollte. Zu den Schlüsselsektoren gehören wichtige Investitions- und Konsumgüterunternehmen, Unternehmen der gesellschaftlichen Infrastruktur (Energie, Verkehr, Gesundheit) und das Bank- und Kreditwesen. Im verbleibenden privaten Sektor wird die Mitbeteiligung der Belegschaften eine wichtige Rolle spielen, insbesondere was die Gestaltung der Arbeitsverhältnisse angeht.

Marktsozialismus und Modernisierung.

Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich gezeigt, dass der Finanzkapitalismus die Technikentwicklung für drastische kurzfristige Kostensenkungen und Rentabilitätssteigerungen auf Kosten der Beschäftigten und zu Gunsten der Aktionäre und institutionellen Investoren, zum Beispiel Investmentfonds wie Black Rock, genutzt hat. Das hat zur Folge gehabt, dass etliche Fortschritte bei der Lohnentwicklung, Arbeitszeitentwicklung und Sozialstaatsgestaltung der vorangegangenen Epoche zurückgenommen wurden. Ein modernes Sozialismuskonzept wird an den am weitesten entwickelten Formen der Technik und der sozialen Gestaltung des Kapitalismus anknüpfen und ihre Weiterentwicklung für die Zwecke der Beschäftigten und Sozialleistungsempfänger nutzbar machen. Es geht dabei um eine neue Betriebsweise, bei der die Modernisierung der Technik für eine bewusste Steuerung der Investitionen eingesetzt wird. Der produktive wertschöpfende Bereich der Volkswirtschaft wird von Vermögensansprüchen der Aktionäre und institutionellen Investoren weitgehend befreit werden müssen. Der Finanzsektor wird seines spekulativen und teilweise parasitären Charakters entkleidet und zu einer „dienenden Rolle“ im Steuerungsprozess der Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums eingesetzt. Europa bzw. die EU muss auf eine weitgehende politische Vereinheitlichung und regionale Strukturpolitik hin orientiert werden. Auch die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung muss mit entsprechendem sozialem Ausgleich in den Blick genommen werden. Für eine sozialistische Wirtschaftspolitik bedeutet das, auf Europa bezogen, die Strukturpolitik das Herzstück einer bewussten Gestaltung europäischer Wirtschaftsstrukturen darstellt.

Die neue Qualität gegenüber der bisherigen Politik besteht darin, dass offensiv steuernde Eingriffe vorgenommen und vor allem regionale Entwicklungsaufgaben angegangen werden. Die Strukturpolitik wird sozial verträglich sein und ein ökonomischer und sozialer Ausgleich zwischen den beteiligten Ländern der EU verwirklicht werden. Diese Politik muss national und europaweit mit neuen volkswirtschaftlichen Steuerungsinstitutionen durchgeführt werden. Vorstellbar sind Agenturen in öffentlicher Rechtsform, die nach politischen Vorgaben und unter Aufsicht von politischen Aufsichtsorganen wirtschaftspolitische Maßnahmen entweder selbst ergreifen oder überwachen und der Finanzhoheit von Parlamenten unterliegen. Die öffentliche Strukturpolitik der sozialistischen Marktwirtschaft erfolgt damit sowohl durch den öffentlichen Wirtschaftssektor selbst als auch durch mit ihm abgestimmte Steuerungsagenturen, die als verlängerter Arm der parlamentarisch beschlossenen Wirtschaftspolitik dienen.

Für den überkommenen Sozialstaat bedeutet Modernisierung unter marktsozialistischen Vorzeichen die Rücknahme seiner klassenspezifischen Merkmale. Die erste Forderung zur Relativierung des bürgerlichen Sozialstaats könnte die allgemeine Bürgerversicherung bei Krankheit, Unfall, Pflegebedarf und Alter sein.  Ferner sollten öffentliche Dienstleistungen Dienstleistungen auf Kostenbasis ohne Profitbestandteile sein. Sofern öffentliche Dienstleistungen sich nicht selbst tragen können sind sie aus Steuermitteln zu finanzieren.

Die Ausgestaltung des Steuersystems sollte nach dem Prinzip der Stärkung der direkten gegenüber indirekter Besteuerung erfolgen. Das bedeutet, eine progressive Besteuerung auf höhere Einkommen und Vermögen vorzunehmen. Sofern eine Einkommensspreizung weiterhin erfolgt, so sollte sie gesellschaftlich transparent und allgemein akzeptiert sein. Die Leitlinie muss in der sozialistischen Marktwirtschaft sein, eine Abstufung von Einkommen nach der Leistung zu ermöglichen und leistungslose Einkommen, zum Beispiel von Aktionären, ganz zu unterbinden.

Die Gestaltung des Arbeitslebens in der sozialistischen Marktwirtschaft hat anzuknüpfen an den entwickelten Formen im Kapitalismus. Sie hat die überkommenen Regulierungen zu modernisieren und auszubauen. Wie bereits dargestellt, entkleidet diese Politik die Produktionsmittel ihres Kapitalcharakters und trägt dazu bei, der Arbeitskraft nach und nach den Charakter einer auf dem Markt frei verfügbaren Ware zu nehmen. Das bedeutet unter anderen, dass die Beschäftigten und ihre Vertreter entscheidenden Einfluss auf die Unternehmenspolitik erhalten und zusammen mit außerbetrieblichen gesellschaftlichen Gruppen, zum Beispiel kommunalen Vertretern,  die Entwicklung des Unternehmens bestimmen. Genossenschaftliche Strukturen in modernisierter Form können deutlich machen, dass die Beschäftigten nicht in erster Linie kurzfristig denkende Interessenvertreter sind sondern vor allem auch mittel- und langfristige Perspektiven, die Teil der gesellschaftlichen Strukturpolitik sind, im Auge haben.

Kommunistische Perspektiven?

Auch die in groben Zügen vorgeschlagene sozialistische Marktwirtschaft ist von einer Gesellschaft des Überflusses, in der die Güter frei verfügbar sind und eine marktvermittelte Ressourcenverteilung entbehrlich ist, noch weitentfernt. Die Güter werden weiter als Waren verkauft und die Nachfrage ist weiterhin zahlungsfähige Nachfrage. Es gilt das Marxsche Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten jeder nach seiner Leistung.“ Dieses Prinzip ist nach Marx charakteristisch für die unentwickelte Phase des Kommunismus, die auch als Sozialismus bezeichnet wird. Originalton Marx: „ Womit wir es hier zu tun haben, ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht, also in jeder Beziehung, ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Muttermalen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.“ (3) Diese Gesellschaft weist weiter eine marktvermittelte Verteilung von Waren auf. Der Staatssozialismus, so wie er sich bis zu seinem Niedergang darstellte, versuchte demgegenüber eine Verteilung durch zentrale Planungsbehörden. Was dabei heraus kam, war eine Verteilung des Mangels mit persönlicher Bereicherung, Vetternwirtschaft und Korruption und mitnichten eine höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft, die eine Überflussgesellschaft darstellen sollte. In einer Überflussgesellschaft sollte tendenziell der gesamte notwendige Konsum mit freien Gütern, das heißt ohne Warenform und Preise, bewerkstelligt werden können. Ob ein solcher Gesellschaftszustand erreichbar und mit dem Begriff „Kommunismus“ zu etikettieren ist, war auch für Marx zweifelhaft. Noch einmal Marx: „Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.“ (4) Eine solche Formulierung steht in direktem Gegensatz zu einer Vielzahl von Verlautbarungen kommunistischer Parteien im Staatssozialismus. Eine Überflussgesellschaft im Sinne von Marx, in der eine Verteilung nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen möglich ist, ist allerdings weiter eine Gesellschaft, in der Arbeit eine gesellschaftliche Notwendigkeit darstellt. Arbeit bleibt ein Mittel zur Nutzbarmachung von gesellschaftlichen und natürlichen Ressourcen, auch wenn sie möglicherweise zunehmend wissenschaftliche Arbeit und Kontrollarbeit eines automatischen Produktionsprozesses darstellt. Sie ist eine hoch produktive Arbeit, die unter allen werkfähigen Mitgliedern der Gesellschaft verteilt wird und die einen sinkenden Anteil an der Lebenszeit der Menschen einnehmen wird. Auf der anderen Seite sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Überfluss bzw. die Überwindung von Knappheit nicht nur eine Frage der Produktivität der Arbeit, sondern auch eine Frage der Bedürfnisentwicklung der Individuen ist. Es kommt darauf an, dass das Bedürfnissystem auf eine rationale und demokratische Weise entwickelt wird und, im Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft, nicht mehr den Zwängen der privaten Kapitalverwertung unterworfen ist.

Das bedeutet auch einen Kampf gegen Entwicklungen zu führen, die letztlich auf die private Kapitalverwertung zurückgehen, also ökonomische, soziale und Umweltkrisen. Für die Zeit nach der Corona-Krise muss massiv gegen alle Versuche vorgegangen werden, zur alten neoliberalen Politik zurückzukehren. Die Demokratische Linke hat dem eine überzeugende und glaubwürdige Alternative zu dieser Politik entgegenzuhalten.

  • Siehe hierzu: Stephan Krüger, Keynes und Marx, Hamburg 2012,

  S. 347ff und Stephan Krüger, Wirtschaftspolitik und Sozialismus, Ham- burg 2015 sowie verschiedene Aufsätze in Sozialismus aktuell.

(2) Siehe: Dullien, Herr, Kellermann, Der gute Kapitalismus und was sich   dafür ändern müsste, Bielefeld 2009.

(3) Siehe Marx-Engels-Werke, Band 19, S. 20(4) Siehe Marx

Das politische System der USA in der Krise

17. Oktober 2020  Allgemein

 DR.PETER BEHNEN

  DIE LINKE FREIBURG

                   DAS POLITISCHE SYSTEM DER USA IN DER KRISE (1).

Die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA im Jahre 2016 führte zu einer Erschütterung des politischen Systems der USA und legte zugleich seine inhärente Schwäche offen. Trump wurde gewählt zu einer Zeit, als die USA ihre ökonomische und politische Hegemonie teilweise verloren hatten und gegenüber der EU und vor allem China ins Hintertreffen zu kommen drohten. Insoweit war es kein Wunder, dass Trump seinen Wahlkampf 2016 mit nationalistischen Parolen, wie zum Beispiel „Make America great again“, betrieb. Diese Wahlkampfstrategie ist jedoch inzwischen an der gesellschaftlichen Realität gescheitert und lässt sich nicht für den laufenden Wahlkampf 2020 ohne Probleme wiederbeleben.

Von einer blühenden Wirtschaft konnte schon vor der Corona-Pandemie in den USA nicht die Rede sein. Nach der Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) dürfte die USA-Wirtschaft im Jahre 2020 um 4,3% schrumpfen, die Arbeitslosenrate liegt mit 7,9% auf dem höchsten Stand im Vorfeld einer Präsidentenwahl seit 1948. Infolge der Corona-Pandemie gingen über 22 Millionen Arbeitsplätze verloren. Wegen des erneut hohen Infektionsgeschehens geraten immer mehr Unternehmen in Schwierigkeiten. Die Zentralbank (FED) geht davon aus, dass die Arbeitslosenquote in Wirklichkeit bei 10-11% liegt. Trump versucht nun, weil er selbst, seine Frau und ein Teil seines Stabes an Corona erkrankte, die Erkrankung für den Wahlkampf zu nutzen. Er gibt sich als Sieger über den Virus, ein Zynismus angesichts von etwa 200000 Toten und etwa 8 Millionen Infizierten Amerikanern und Amerikanerinnen.

Die Corona-Krise hat allerdings auch das politische System der USA erschüttert und seine Schwächen öffentlich gemacht. Das zeigt sich zum Beispiel beim Kampf um die Besetzung einer Richterstelle am Obersten Gericht. Der Besetzung kommt eine enorme politische Bedeutung zu. Die neun Richter, die auf Lebenszeit ernannt werden, entscheiden häufig bei besonders strittigen politischen Fragen. Bis zum Tod von Ruth Bader Ginsburg, die liberale Werte vertrat, standen sich 5 konservative und 4 eher progressive RichterInnen gegenüber. Es kam in den letzten Jahren häufiger vor, dass bei dieser Konstellation sich die progressiven RichterInnen nicht gegen die konservativen durchsetzen konnten. Das lag u.a. an der Beratungs -und Diskussionskultur des Obersten Gerichts. Im Falle einer strittigen Frage mussten sich alle Richter bzw. Richterinnen nacheinander äußern und dann sofort ihre Stimme abgeben. Eine argumentative Auseinandersetzung war damit nicht möglich, ein Abbau von Differenzen eher unwahrscheinlich.                                                        Die Richter bzw. Richterinnen am Obersten Bundesgericht   werden vom Präsidenten vorgeschlagen und dann vom amerikanischen Senat bestätigt. Es reicht eine einfache Mehrheit in dem 100-köpfigen Gremium, das heißt, die Republikaner können mit ihrer Mehrheit von 53 Stimmen die konservative Juristin Amy Coney Barret in das Amt befördern. Mit ihr könnten die Konservativen im Obersten Gericht ihre Mehrheit ausbauen, insbesondere dann, wenn die Bestätigung des Senats noch vor der Präsidentschaftswahl erfolgen würde. Eine Stärkung der Konservativen im Obersten Gericht würde die amerikanische Gesellschaft noch weiter nach rechts verschieben. Das betrifft beispielsweise die Frage des Abtreibungsrechts, des Waffenrechts oder auch die Gesundheitsreform Obamas. Auch Trumps Ankündigung, bei seiner Niederlage bei der Präsidentschaftswahl 2020 könne es sich nur um Manipulationen handeln, könnte zur Klärung des Wahlausganges vor dem Obersten Gericht landen.

Dadurch wird deutlich, welches politische Gewicht der Senat besitzt. Jeder Bundesstaat darf unabhängig von seiner Bevölkerungszahl zwei Personen in den Senat entsenden, die dann für 6 Jahre gewählt sind. Das führt zu einem Übergewicht bevölkerungsarmer Staaten im Senat, die dadurch auch ein Übergewicht bei der Gesetzgebung, der Kontrolle des Präsidenten, der Ratifizierung internationaler Verträge und auch beim Amtsenthebungsverfahren des Präsidenten erhalten. Bis 2040 ist damit zu rechnen, wenn verschiedene Prognosen stimmen, dass 70% der AmerikanerInnen in 15 der 50 Bundesstaaten leben werden. Das würde dazu führen, dass 30% der AmerikanerInnen 7o der 100 Mitglieder des Senats bestimmten und im Senat nicht mehr die Vielfalt der USA repräsentiert würde.

Die Wahl des Präsidenten würde ebenfalls tangiert. Der Präsident wird nicht direkt durch das Volk gewählt, sondern durch ein Wahlleutegremium. Es genügt einem Präsidentschaftskandidaten eine einfache Mehrheit in einem Bundesstaat, um alle Wahlleute des Staates zu erhalten. Alle Stimmen des oder der unterlegenen Kandidaten fallen dann weg (The winner takes all).   Auch hier erhalten die bevölkerungsarmen Staaten, die in der Regel landwirtschaftlich geprägt sind, ein besonderes Gewicht, weil sie in der Regel eine überproportionale Anzahl von Wahlleuten besitzen. Das spielt den Republikanern in die Hände, die traditionell in diesen Staaten stark sind.  Auf diese Weise ist es möglich, dass ein Kandidat bzw. Kandidatin die Präsidentschaft erringen kann, die nicht die Mehrheit der WählerInnen in den USA erhalten hat. Das ist zuletzt bei der Wahl von Donald Trump gegen Hillary Clinton passiert. Es bekommen dann auch die Staaten ein besonderes Gewicht, bei denen weder Republikaner noch Demokraten eine strukturelle Mehrheit haben (Swinging States). Die Verzerrung des Wählervotums wird verstärkt durch den Trend vieler WählerInnen, in die urbanen Zentren an der Ostküste- und Westküste des Landes zu ziehen. Der Trend hat viel mit dem Ziel vieler WählerInnen zu tun, in den Dienstleistungszentren zu leben. Strukturelle Veränderungen des Wirtschaftslebens, die dem Trend zugrunde liegen, führen auch dazu, dass zunehmend Jobs Hochschulabschlüsse erfordern, und die soziale Perspektive anderer Jobs unzureichend bleibt. Die Kapitalverwertung spielt sich heute weniger im ländlichen Raum, sondern mehr in den urbanen Zentren ab. Das hat zur Folge, dass ein Kandidat oder Kandidatin für die Präsidentschaft auch dann noch gewinnen kann, wenn er prozentual weit hinter dem Gegenkandidaten, der die urbanen Zentren beherrscht, zurückliegt.

Insgesamt ist das Wahlsystem der USA sowohl in Bezug auf den Senat als auch auf die Präsidentenwahl fragwürdig, weil keine Legitimation durch eine Bevölkerungsmehrheit erfolgt. Notwendig wäre eine grundlegende Reform des Wahlsystems, was allerdings sowohl eine zweidrittel Mehrheit im Senat als auch Repräsentantenhaus erforderte und zudem noch eine Zustimmung von Dreiviertel aller Bundesstaaten. Das ist nach Lage der Dinge auf absehbare Zeit nicht machbar. Die USA stehen somit vor der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie und vor der Gefahr der Zuspitzung der Krise des politischen Systems. Donald Trump versprach seinen WählerInnen ihnen die Macht gegen die politischen Eliten zurückzugeben. Er meint dabei aber nicht das ganze Volk, sondern eigentlich nur die weiße, christlich-konservativ und zum Teil fundamentalistisch geprägte Mittelschicht, die über keinen Hochschulabschluss verfügt. Dieser Teil der Bevölkerung befürchtet einen sozialen Abstieg und ist offen für eine rechtspopulistische Ideologie. Trump schürt deswegen Bedrohungs- und Opfergefühle in der US-Gesellschaft und proklamiert eine Law-and-Order-Politik. Außenpolitisch schürt er insbesondere Bedrohungsgefühle gegenüber China und macht China für die Corona-Pandemie verantwortlich (China-Virus). Innenpolitisch kann das in der US-Verfassung verankerte Recht auf privaten Waffenbesitz dazu führen, dass die private Militarisierung weitergeht und ein gefährliche Gewaltpolitik in die Wege leitet. Das Wahl-und Repräsentationssystem der

USA könnte nicht nur zu einer politischen Blockade führen, sondern vor dem Hintergrund des umfassenden Waffenbesitzes zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten und bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen. Notwendig wäre heute eine vertiefte Diskussion über marktradikale Politik, die zu massiven Ungleichheiten führt, über die Überwindung des Rassismus in den USA und über die Gefahr des Verlustes der Demokratie mit fatalen nationalen und internationalen Folgen.

(1)Siehe zu diesem Aufsatz: Friedrich Steinfeld, Gefährliche Gemengelage im US-Wahlkampf, Sozialismus aktuell vom 10.10.2020.

Was ist los auf dem Arbeitsmarkt?

06. Oktober 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

                          WAS IST LOS AUF DEM ARBEITSMARKT? (1)

Durch die Corona-Krise kam es auch in der Bundesrepublik zu einer tiefen Rezession. Für 2020 wird mit einem Minus in der gesamtwirtschaftlichen Leistung von 5% gerechnet. Doch es gibt einen Silberstreifen am Horizont. Die Konjunkturforscher der Hans-Böckler-Stiftung rechnen für Ende 2021 damit, dass das Vorkrisenniveau wieder erreicht wird. Für 2021 rechnen sie mit einem Wirtschaftswachstum von 4,9%. Das führen sie auf die nach ihrer Ansicht entschlossene Krisenpolitik der Bundesregierung zurück, insbesondere auf die Stützung der Konjunktur durch das Kurzarbeitergeld. Positiv hervorgehoben wird ebenfalls die Krisenbekämpfung der Europäischen Zentralbank (EZB) und der EU. Der europäische Recovery-Plan in Höhe von 750 MRD Euro habe zur Stabilisierung beigetragen. Risiken sehen die Konjunkturforscher der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen größeren Infektionswelle, der Politik der USA nach den amerikanischen Wahlen und in dem Brexit. Beunruhigend sei außerdem die Frage, ob es den exportorientierten Wirtschaftszweigen (z.B. der Autoindustrie) gelingt, aus der Rezession herauszufinden?

Das gesamte Szenario hat natürlich starke Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. So lag die Zahl der registrierten Arbeitslosen im September bei 2,8 Millionen. Im Vergleich zum September 2019 ist das ein Anstieg von 613000 Arbeitslosen oder 27%. Trotzdem ist davon auszugehen, dass vermutlich der Tiefpunkt am Arbeitsmarkt durchschritten ist. Die Zahl der ArbeitnehmerInnen in Kurzarbeit betrug im Juli 4,2 Millionen, das sind dreimal so viel wie in der Finanzkrise 2008/2009. Auf die ausgefallene Arbeitszeit berechnet bedeutet das 1,6 Millionen weitere Arbeitslose. Das wird zur Folge haben, dass zuerst das Arbeitspensum der KurzarbeiterInnen wieder hochgefahren wird, bevor Unternehmen neue Arbeitskräfte einstellen.

Bei der Betrachtung der verschiedenen Branchen ergibt sich ein differenziertes Bild. Die saisonbereinigte Beschäftigung gegenüber dem Vormonat August ist überwiegend gestiegen. Zuwächse gab es vor allem im Gastgewerbe, Gesundheitswesen sowie im Pflege- und Sozialbereich, Rückgänge allerdings im verarbeitenden Gewerbe (Metall- und Elektrobereich) und in der Arbeitnehmerüberlassung (2). Nimmt man jedoch den Vorjahresvergleich ist die Beschäftigung im Gesundheitswesen am stärksten gewachsen, wenn auch mit kleinerem Wachstum seit der Corona-Krise. Die Beschäftigungsrückgänge gegenüber dem Vorjahr konzentrieren sich auf die Arbeitnehmerüberlassung, Metall- und Elektroindustrie und beim Gastgewerbe. Prekär Beschäftigte sind durch die Corona-Krise besonders betroffen. Bis Ende Juni sind im Gastgewerbe 325000 Minijobs weggebrochen, es folgt der Dienstleistungsbereich mit einem Einbruch von 96116 Minijobs, dann der Handel und das verarbeitende Gewerbe mit einem Einbruch von 73641 und 70181 Minijobs. In der Summe ging jeder achte Minijob verloren.

Insgesamt muss festgestellt werden, dass die Wirtschaftskrise die soziale Ungleichheit, die schon vorher massiv war, verschärft. Die Kurzarbeit und die Schließung von Geschäften führten zu einer starken negativen Lohnentwicklung. Die Nominallöhne sind mit einem Minus von 4% noch deutlicher gefallen als im Verlaufe der Finanzkrise 2008/2009, bedingt vor allem durch die Verkürzung der Arbeitszeit. Am stärksten betroffen waren die unteren Lohngruppen. Für ungelernte und angelernte ArbeitnehmerInnen reduzierten sich die Nominallöhne um 7,4 bzw. 8,9%. Nach der Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung hat bereits über ein Viertel der Erwerbstätigen Einkommen verloren. Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen haben dabei häufiger an Einkommen eingebüßt, erhalten bei Kurzarbeit seltener eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes und haben häufiger Angst, ihren Arbeitsplatz ganz zu verlieren. Bessere Perspektiven haben in der Regel Beschäftigte in Unternehmen mit Tarifvertrag und Mitbestimmung.

Die Frage ist, wie die Entwicklung in den nächsten Monaten weitergeht?

Schon jetzt ist klar, dass die Unsicherheit und die Zukunftsängste zunehmen werden und sich der Nährboden für rechtspopulistische Bewegungen erweitern kann. Wie sich die gesellschaftliche Wertschöpfung weiterentwickeln wird, ist ziemlich unklar. Eine nationale Erholung des Wirtschaftsgeschehens unabhängig von der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und des Weltmarktes ist nicht zu erwarten. Falls nach der Jahreswende wieder eine starke Welle von Insolvenzen zu verzeichnen wäre, würde die Zahl der Arbeitslosen weiter in die Höhe schießen und deutlich werden, dass die Wirtschaftskrise nicht überstanden ist.

(1)Grundlage des Aufsatzes: Bischoff, Müller in: Sozialismus aktuell vom   2.10.20

(2) Von Arbeitnehmerüberlassung wird gesprochen, wenn ein selbstständiges Unternehmen (Verleiher) einen Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin  (Leiharbeitnehmer) an ein anders Unternehmen ausleiht, wobei der Verleiher alle Rechte und Pflichten des Arbeitgebers zu übernehmen hat.  Während die FDP und die CDU/CSU die Leiharbeit befürworten, lehnt die Linkspartei die Leiharbeit ab, wegen der Vielzahl von Missbräuchen. Die SPD und die Grünen halten daran fest, wollen aber eine gleiche Bezahlung und gleiche Arbeitsbedingungen von Stammbelegschaften und Leiharbeiterschaft durchsetzen.

Inflation und Corona

16. September 2020  Allgemein

DR.PETER BEHNEN

DIE LINKE FREIBURG

                              MIT EINEM „WUMMS“ IN DIE INFLATION?

Die Bundesregierung hat in der Corona-Krise mit 1,2 Billionen Euro das größte Hilfsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik aufgelegt. Nachdem die Bundesregierung zuerst das Ziel verfolgte, Arbeitsplätze zu erhalten, den Fortbestand von Unternehmen zu sichern und krasse soziale Notlagen zu vermeiden, sollte es dann darum gehen, die bundesdeutsche Wirtschaft wieder auf einen Wachstumskurs zu bringen. Der Bundesfinanzminister Scholz wollte mit einem „Wumms“ die Krise überwinden. Das aufgelegte Programm zielte sowohl auf Nachfrage- und Konsumimpulse als auch gezielte Förderung von Zukunftsinvestitionen. „Offen ist in zentralen Punkten, ob die beabsichtigten Wirkungen erreicht werden können. Offen ist ebenfalls, wie der Bundesfinanzminister einräumt, die Gegenfinanzierung.“ (1) Klar war von Anfang an, dass die Schuldenbremse nicht eingehalten werden konnte, also ein Nachtragshaushalt nötig werden würde. Bemerkenswert war, wie schnell sich etablierte PolitikerInnen von ihren Dogmen, zum Beispiel dem Dogma der schwarzen Null, verabschiedeten. Finanzminister Scholz kalkuliert für 2020 mit einer Rekordsumme von 218,5 Mrd. Euro an zusätzlichen Schulden. „Strittig ist diese Politik, weil befürchtet wird, dass daraus langfristig das Potenzial für höhere Inflationsraten ansteigt.“ (2) Hier handelt es sich normalerweise um ein Standardargument der Neoklassik oder des Ordoliberalismus, doch auch bei einigen Marxisten wird eine Inflationsentwicklung befürchtet.

Conrad Schuhler schreibt in einem Aufsatz für das Institut für sozialökologische Wirtschaftsforschung ( ISW) im Juli 2020: „ Zwar ist die allgemeine Inflation von Gütern und Diensten im Korridor von 1% bis 2% (und tiefer)  verlaufen, doch sind die Preise der Vermögensgüter beträchtlich gestiegen. Im letzten Jahrzehnt brachte es die Gesamtwirtschaft auf ein Wachstum nahe bei Null -langfristig Stagnation- doch schafften die Vermögenswerte ein Vielfaches davon.“ (3) Schuhler plädiert demgegenüber für eine Politik, die die kaufkräftige Nachfrage der Konsumenten stärkt. Abzulehnen sei die im Corona-Hilfsprogramm vorgenommene Senkung der Mehrwertsteuer. Sie sei unwirksam, auch weil letztlich die Unternehmen entschieden, wer in den Genuss der Steuersenkung komme. Schuhler stellt für das Hilfsprogramm von 130 Mrd. Euro ein Missverhältnis „von zugeschossener Geldmenge (gesunkener Steuer) und zusätzlichem Produkt (fest P.B.) – die klassische Inflationsursache.“ (4) Sein Fazit lautet: „Enorme Erhöhung der Geldausgaben; erster Nutznießer sind die Unternehmen; der Ausbau an Gütern und Diensten ist relativ bescheiden, die Inflationsgefahr damit hoch.“ (5) Schuhler wendet sich vor allem gegen die Art der Finanzierung des Hilfsprogramms der Bundesregierung, er zweifelt vor allem an der Äquivalenz von Geldmenge und dem Output an Gütern und Diensten. Statt der Geldschöpfung durch Staatskredite plädiert er für die Transformation der Wirtschaft durch Besteuerung hoher Vermögen und einen Lastenausgleich zu Gunsten der BürgerInnen mit geringem oder fehlendem Vermögen. In der letzten Instanz müsse es darum gehen, den Kapitalismus abzulösen.

Michael Wendl formuliert in einem Aufsatz beim ISW eine Kritik an der Sichtweise Conrad Schuhlers. Es geht ihm um die Frage: Inflation oder Deflation? „Die Vorstellung, auf der diese Inflationsangst basiert, ist einfach. Sowohl die expansive Geldpolitik der Zentralbanken wie die groß dimensionierten Ausgabenprogramme der Regierung fluten die Märkte mit zusätzlichem Geld. Damit übersteige die zahlungsfähige Nachfrage das Angebot an Gütern und Dienstleistungen und führe dadurch zu enormen Preissteigerungen.“ (6) Nach Wendl stützt sich Schuhlers Spekulation auf die sogenannte Quantitätstheorie des Geldes. Das bedeutet, die steigende Geldmenge führe aus dieser Sicht zu steigenden Preisen und nicht zu steigenden Mengen. Geld werde als neutral eingeschätzt und habe keine Auswirkung auf den realen Sektor. Auch die Geldschöpfung durch die Zentralbanken führe nur zum Anstieg des Preisniveaus. Wendl sieht das allerdings grundsätzlich anders. „Die Annahmen, dass es zwangsläufig zu einer Inflation, manche sprechen sogar von einer Hyperinflation, kommen muss, sind durch eine nicht zutreffende Sicht auf die Verfahren der Kredit- und Geldschöpfung durch das zweistufige Bankensystem gekennzeichnet.“ (7) Wendl ist der Auffassung, die Banken seien auf Einlagen der Sparer nicht angewiesen, weil sie sich durch Kreditvergabe die Einlagen selbst schafften. Über die Konten bei der Zentralbank wickelten die Geschäftsbanken ihre gesamten Transaktionen ab. Eine Inflation könne nur entstehen, wenn die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen das Angebot übersteige und die Produktion nicht elastisch reagiere. „Geld entsteht daher endogen durch die Nachfrage nach Krediten. Nur wenn mehr Kredite nachgefragt werden, erhöht sich die Geldmenge. Dann wird mehr investiert und konsumiert. Damit erhöht sich aber auch das Produktionspotential.“ (8)

Wendl kommt zu folgendem Schluss: „Insofern gehen von der aktuellen zusätzlichen Staatsverschuldung keine inflationären Impulse aus.“ (9)

Dass auch traditionelle marxistische Analysen eine expansive Geldpolitik mit der Gefahr einer Inflation verknüpfen, sieht Michael Wendl in der Vernachlässigung der Rolle von Geld und Kredit durch die meisten Marxisten. Wendl schließt sich in der Frage der Geldschöpfung von Banken dem bürgerlichen Ökonomen Joseph Schumpeter an, bei dem die Geldschöpfung quasi aus dem Nichts erfolgt, das heißt, durch Staat und Banken. Insoweit ist Wendl bei der modernen Geldtheorie (MMT) gelandet.

Dieser theoretischen Position widerspricht Stephan Krüger. Ob Wendl ihn dem traditionellen Marxismus zuordnet, muss dahin gestellt bleiben. Stephan Krüger zeigt, dass gerade von marxistischer Seite eine aktuelle und nachvollziehbare Ableitung des kapitalistischen Geld- und Kreditsystems erfolgen muss und bewerkstelligt werden kann (10).                                                                                            Krüger beginnt seine Nachzeichnung der Evolution des kapitalistischen Geld- und Kreditsystems mit der Warenzirkulation und der Geldware mit Selbstwert als Grundlage. Die Geldware Gold bildet dabei den Ausgangspunkt. Inzwischen habe bis heute eine fortschreitende Idealisierung der Geldware Gold im nationalen und internationalen Rahmen stattgefunden. Es sei allerdings daran festzuhalten, was Marx im „Kapital“ (Bd.3) formuliert habe. Es dürfe „nie vergessen werden, dass das Geld- in der Form der edlen Metalle-die Unterlage bleibt, wovon das Kreditwesen von der Natur der Sache nach nie loskommen kann.“ (11) Krüger will auf dieser Basis die zeitgenössischen Formen des Geldes und Kredits erschließen.

Er stellt die nach wie vor gültigen Beziehungen und Strukturen der kapitalistischen Produktionsweise folgendermaßen dar:

1.Die Waren treten preisbestimmt in die Zirkulation ein. Das heißt auch, dass der Wert der Waren nachfrageinduzierte Veränderungen erhält.

2. Der Umfang der zirkulierenden Waren bestimmt die Geldzirkulation. Die Quantitätstheorie des Geldes richtig dargestellt beinhaltet einen rückwirkenden monetären Einfluss des Geldsystems auf die Warenpreise. Die Verkehrsgleichung des Geldes ist zu modifizieren. Das heißt, die gesamtwirtschaftliche Preissumme bestimmt die Geldmenge. Soweit die Geldmenge in der Form von Wertzeichen zirkuliert, besteht eine monetär induzierte Rückwirkung auf die Preise. (12)

3. Die Kapitalakkumulation erhält ihre Dynamik aus der Mehrwertproduktion und ihren Gesetzmäßigkeiten und nicht aus der Verwertung des Geldkapitals. Es besteht allerdings eine Wechselwirkung ungleicher Kräfte.

4. Der Finanzsektor ist ein abgeleiteter Sektor gegenüber der reproduktiven Basis des industriellen und kommerziellen Kapitals.

5. Die langfristigen Verselbständigungstendenzen des Finanzsektors werden bestimmt durch den immanenten Widerspruch der kapitalistischen Mehrwertproduktion (Rate und Masse des Mehrwerts). Die beschleunigte Kaptalakkumulation wird abgelöst durch die strukturelle Überakkumulation.

6. Der aktuelle Finanzmarktkapitalismus ist die bisher weitestgehende Verselbständigung. Es wird versucht, die Wertschöpfung durch Verschuldung zu stabilisieren.

Die auf die forcierte Geldschöpfung angelegte Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) schlägt im Prosperitätszyklus nach dem 2.Weltkrieg in inflationäre Prozesse um, wenn die Kapazitätsgrenzen der Unternehmen erreicht sind. Im Überakkumulationszyklus seit der Mitte der 70er Jahre kommt es zu verwertungsbedingten Grenzen der Kreditnachfrage der Unternehmen und zu Einkommensgrenzen der Haushalte. Daraus folgt eine Umleitung der Kapitalströme auf die Finanzmärkte und die Bildung von Vermögenspreisblasen. Diese Entwicklung ist nicht zu beenden, wenn die Verwertungsblockaden der strukturellen Überakkumulation nicht aufgelöst werden. Die Entwicklung des Kapitalismus stößt an seine Systemgrenze.

Die Frage ist, wie sich die Geldpolitik der Flutung der Finanzmärkte durch den Ankauf von Wertpapieren (Staatspapieren) durch die Zentralbanken (Quantitative Easing) langfristig auswirkt. Es entsteht unter Überakkumulationsbedingungen das Problem, dass weniger reproduktive Mengeneffekte als vielmehr Preiseffekte im Vermögenssektor mit negativen Rückwirkungen auf den reproduktiven Sektor erzeugt werden. Die expansive Geldpolitik wurde vor der Corona-Zeit konterkariert durch die Austeritätspolitik und Schuldenbremsen der Eurostaaten. Nun aber wird nach Corona auf lange Sicht die Verschuldungspolitik nicht endlos weitergeführt werden können, insbesondere dann, wenn die Verwertungsblockaden die Wertschöpfung hemmen. Die Zentralbanken stecken in einem Dilemma:

„verlangsamte produktive Kapitalakkumulation mit latenter Deflationsgefahr an den Warenmärkten und zugleich eine Inflation der Wertpapierkurse mit Gefahr des Platzens der Vermögenspreisblasen.“ (13)

Die Zentralbanken können durch das Aussteigen aus dem quantitative Easing die Deflation an den Warenmärkten verstärken oder bei Fortsetzung der lockeren Geldpolitik einen Krach an den Finanzmärkten riskieren. Stephan Krüger sieht die Gefahr eines Umschlages des Kapitalismus in die Barbarei, insbesondere bei entsprechenden weltpolitischen Konstellationen. Die wirkliche Lösung der Probleme könne nur darin bestehen, die Bedeutung der Profitrate zu relativieren, den Kapitalcharakter des zinstragenden Kapitals zu überwinden und Schritt für Schritt eine sozialistische Marktwirtschaft zu schaffen.

Conrad Schuhler kommt zwar auch zu der Schlussfolgerung, dass der Kapitalismus zu beenden sei, aber von einer theoretisch einwandfreien und logisch nachvollziehbaren Darlegung der heutigen Probleme kann bei ihm nicht die Rede sein. Nur dadurch ist sein Festhalten an der naiven Quantitätstheorie des Geldes und seine Inflationsbeschwörung zu erklären. Es ist Michael Wendl zwar zuzustimmen, dass die Heranziehung der naiven Quantitätstheorie des Geldes nicht weiterführt, aber auch er findet keinen Weg, die Quantitätstheorie des Geldes so zu modifizieren, dass sie einen Beitrag zur Erklärung der Geldmengenentwicklung und Preisentwicklung leisten kann. Wendl unterlässt es, den Weg über die Zirkulation von Waren und der Idealisierung der Geldware mit Selbstwert nachzuvollziehen und beginnt gleich mit der entwickelten Ebene des Kreditsystems. Für ihn entsteht Geld endogen durch Kredite, die zur Steigerung des Konsums und der Produktion führen mit dem Ergebnis, dass durch die zusätzliche Staatsverschuldung kein Inflationsrisiko ableitbar sei. Er landet dabei bei der modernen Geldtheorie (MMT), die in der Linken zunehmend Anklang findet. Auch sie weist einen Fundamentalfehler bei der Bestimmung des Geldes auf, es fehlt ein Rückbezug auf die Bedingungen der Kapitalverwertung und es fehlt die Unterscheidung von beschleunigter Kapitalakkumulation und struktureller Überakkumulation. Hinzu kommt die Ausblendung der Einbettung einer Volkswirtschaft in die internationale Konkurrenz.

Insgesamt gesehen kann weder bei Schuhler noch bei Wendl von einer Darstellung und Erklärung der Probleme des zeitgenössischen Kapitalismus gesprochen werden, die die Linke vor weiteren ökonomischen und politischen Irrwegen bewahren würde.

(1) Sozialismus aktuell vom 4.6.20

(2) Sozialismus aktuell vom 24.8.20

(3) Conrad Schuhler: Das Problem der schuldenfinanzierten Konjunktur:  die Umwandlung des Finanz-in Realkapital; ISW vom 6.7.20

(4) Conrad Schuhler a.a.O.

(5) Conrad Schuhler a.a.O.

(6) Michael Wendl, Inflation oder Deflation? ISW vom 6.7.20

(7) Michael Wendl a.a.O.

(8) Michael Wendl a.a.O.

(9) Michael Wendl a.a.O.

10) Der folgende Teil des Aufsatzes fasst ein Referat von Stephan Krüger zusammen: Marx/Engels Stiftung Stuttgart vom 23.11.19                                       Titel: Evolution des kapitalistischen Geld und Währungssystems-von den allgemeinen Bestimmungen des Geldes zu den entwickelten Formen von Geld, Kredit und fiktivem Kapital.

11) MEW 25 S.620

12) Siehe auch: Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr.104 S.87-99

13) Stephan Krüger a.a.O                                                                                                                                                                                                                                                                 

Bedingungsloses Grundeinkommen

20. August 2020  Allgemein

DAS BEDINGUNGSLOSE GRUNDEINKOMMEN- EINE ECHTE ALTERNATIVE FÜR CORONA-ZEITEN?

Die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen zieht sich schon über ein Jahrzehnt hin, eine Diskussion die von BefürworterInnen und GegnerInnen zum Teil erbittert ausgetragen wurde. Die jüngste Diskussion wurde nun von dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin angestoßen. Es stellt fest, dass „die derzeitige Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen…selten auf fundiertem Wissen (beruht).“ (1) Aus diesem Grunde will eine Studie des DIW neue empirische Maßstäbe setzen und zusammen mit dem Verein „Mein Grundeinkommen“ eine Langzeitstudie Deutschland zur Wirkung des bedingungslosen Grundeinkommens erarbeiten. Es will die theoretische Debatte in die soziale Wirklichkeit überführen und herausfinden, „wie ein bedingungsloses Grundeinkommen Menschen und Gesellschaft verändert.“ (2)  Es sind 1500 ProbandInnen der Langzeitstudie vorgesehen, von denen 120 nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Personen 3 Jahre lang monatlich bedingungslos 1200 Euro erhalten.

Es ist sehr wichtig, die empirischen Daten über das Verhalten der ProbandInnen zu bekommen, das kann allerdings die abgelaufene theoretische Debatte nicht vergessen lassen.  Deswegen gilt es, noch einmal wichtige Argumente der Debatte zusammenzufassen.

Je mehr sich in der Bundesrepublik die Massenarbeitslosigkeit verfestigt und die Corona-Krise das ökonomische Leben beeinträchtigt, desto lauter wird auch die Forderung nach grundsätzlich neuen Lösungen für die sozialen Probleme erhoben.  Insoweit ist es kein Zufall, wenn die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle Bürger wieder verstärkt in die Diskussion kommt. Jeder Bürger bzw. Bürgerin soll das Anrecht erhalten, ohne jegliche Bedürfnisprüfung ein bestimmtes Grundeinkommen zu bekommen.  Wenn ein Grundeinkommen von 1000 Euro pro Mont bei 83 Millionen BürgerInnen gezahlt würde, würde das etwa eine Billion Euro pro Jahr kosten, bei gesamten Staatsausgaben von knapp 1,5 Billionen Euro pro Jahr. Das hat das Statistische Bundesamt ermittelt. Die Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens finden sich sowohl bei Neoliberalen als auch bei Linken. Der ehemalige Nobelpreisträger Milton Friedman machte sich schon vor Jahren für eine Art bedingungslosen Grundeinkommens stark. Das gilt ebenso für einige Mitglieder der Linkspartei, zum Beispiel für Katja Kipping und Bodo Ramelow.

Als Vertreter des Unternehmerlagers und Befürworter des bedingungslosen Grundeinkommens in der Bundesrepublik kann beispielsweise Götz Werner, der Gründer der Drogeriekette DM, genommen werden. Werner argumentiert, wir erlebten „produktivitätsbedingt eine Entkopplung von Arbeit und Einkommen: für Arbeit wird immer weniger Einkommen erreichbar, immer mehr Einkommen (Zinsen, Dividenden) wird hingegen ohne Arbeit erzielt…“ (3). Würden aber StaatsbürgerInnen ein Grundeinkommen erhalten, sei ihre Existenz nicht mehr gefährdet. „Wir würden ein Volk von Freiberuflern mit der sozialen Absicherung des Grundeinkommens“ (4). Das Grundeinkommen mache es möglich, die Arbeitskosten zu senken, ohne die Einkommen der Menschen zu reduzieren. Das begünstige dann auch die die Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen im Ausland. Das Grundeinkommen sei auch eine Absicherung gegen Arbeitslosigkeit und sichere den Konsum und damit die Binnenkonjunktur. Zudem gelte: „Ohne ein Recht auf Einkommen sind die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte wie die Würde des Menschen gegenstandslos, weil praktisch nicht realisierbar“ (5).

Die Frage ist allerdings, ob es den neoliberalen Befürwortern des bedingungslosen Grundeinkommens nur um Menschenwürde, sondern ob es nicht auch um ihre handfesten ökonomischen Interessen geht. Götz Werner sieht zwar richtig, dass leistungslose Einkommen (Zinsen, Dividenden) ein immer größeres Gewicht erlangen, jedoch würde durch ein bedingungsloses Grundeinkommen nichts am grundlegenden Problem der Hegemonie der Finanzmärkte geändert werden. Im Gegenteil, es geriete ganz aus der politischen Schusslinie. Ein Volk von Freiberuflern kann vielleicht Götz Werner als erstrebenswertes Ziel ansehen, aber nicht ArbeitnehmerInnen und ihre Gewerkschaften, die noch weiter in die Defensive gedrängt würden. Arbeitskosten zu senken ist ein Traum für Arbeitgeber und Unternehmen, insbesondere für die, die mit ausländischen Konkurrenten zu kämpfen haben. Das würde die Situation von wirtschaftlich schwächeren Ländern am Weltmarkt noch weiter untergraben, selbst wenn es gelänge, die Binnenkonjunktur bei uns anzukurbeln.

Die Diskussion bei Teilen der Linken grenzt sich natürlich strikt von der neoliberalen Sichtweise ab. Katja Kipping schreibt dazu: „Seit vielen Jahren begeistere ich mich für die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens…Es soll die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen.“ (6) Es sei höchste Zeit, eine politische Debatte darüber in der Linkspartei zu führen. Deswegen solle dem Parteitag nach den Bundestagswahlen 2021 vorgeschlagen werden, einen Mitgliederentscheid zur Frage des bedingungslosen Grundeinkommens in die Wege zu leiten. „Die Corona-Krise hat uns vor Augen geführt, wie schnell jede und jeder unverschuldet ins Bodenlose stürzen kann.“ (7) Das stellt dann auch die Linke vor das Problem, wie die Finanzierung der staatlichen Ausgaben bzw. des bedingungslosen Grundeinkommens aussehen sollte. Vorschläge gehen über die Einkommenssteuer, die Verwendung des Sozialbudgets, die Einführung einer Konsumsteuer, die Einführung einer negativen Einkommenssteuer oder die Einführung ganz neuer Steuerarten. (8) In einem Aufsatz der Zeitschrift Sozialismus kommen deswegen Ruth Becker und Eveline Linke zu dem Resümee: „ Wäre es da nicht ökonomisch, ökologisch und im Sinne des den heutigen Menschen Möglichen effizienter, das viele Geld, das hier in die Hand genommen wird, so anzulegen, dass die Basis für gewünschte Ausgaben erhalten bleibt, damit genug für alle dableibt. Statt allen (für die 20% , die es brauchen) ein kleines Geld hinzuschmeißen und zu hoffen, dass einige schon was Gescheites daraus machen, es lieber in all das zu investieren, was bei den etwas kritischeren BGE-Befürwortern so nebenbei läuft.“ (9) Gemeint sind gut bezahlte Arbeitsplätze im privaten und öffentlichen Sektor, direkte Investitionen in staatliche Dienstleistungen und in die Infrastruktur, zum Beispiel im den ÖPNV.

Ein Teil der Linken sieht allerdings im bedingungslosen Grundeinkommen eine Chance, dem Kapitalismus zu entkommen. Der Mensch sei dann der Notwendigkeit enthoben, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Man könne im Sinne von Marx vom „Reich der Notwendigkeit“ ins „Reich der Freiheit“ entfliehen. Die Vorstellung beinhaltet jedoch eine völlig verdrehte Interpretation der Marxschen Theorie. Marx wies immer darauf hin, dass die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit rationell unter allen Gesellschaftsmitgliedern verteilt werden müsse. Was manche Linke hier anbieten, ist eine illusorische und zugleich unsolidarische Vorstellung von der Freiheit des Individuums. Die Alternative zur neoliberalen und teilweise auch linken Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen bleibt weiter die Forderung einer bedarfsorientierten Grundsicherung entlang von Einkommen und Vermögen.  Das gilt auch für Corona-Zeiten. Bürgerinnen und Bürger, die ins Bodenlose zu fallen drohen, sollten den Anspruch auf eine gute ausgestattete Grundsicherung haben, ohne den Zwang, eine unzumutbare Arbeit annehmen zu müssen und ohne die Ausschnüffelung von sogenannten Bedarfsgemeinschaften. Die Diskussion in der Linken sollte sich schnell von der Forderung nach einen bedingungslosen Grundeinkommen für alle verabschieden und verstärkt auf eine gut ausgestattete bedarfsorientierte Grundsicherung, ein umfassendes sozial-ökologisches Programm und auf mittlere und längere Sicht ein schrittweise Abkehr vom finanzgetriebenen Kapitalismus orientieren.

(1)https;// www.diw.de und weiter Links

(2) a.a.O.

(3) Götz Werner, Bildung und Wissenschaft, Mai 2007 S.39

(4) a.a.O.  S.39

(5) a.a.O. S.39

(6) www.katja.kipping.de und weitere Links

(7) a.a.O.

(8) Becker/Linke Sozialismus Heft 3/ 2018 S.60-62

(9) a.a.O. S.65